Ingolstadt
Fingerhakeln um Gebärdenwelt

Spielerisches Lernprogramm Hilfsmittel oder nicht? Jetzt lenkt die Kasse ein

27.11.2013 | Stand 02.12.2020, 23:22 Uhr

Mit ihrer Hörprothese ist die taube Tiara immer noch hochgradig schwerhörig. Weil sie das implantierte Gerät in vielen Alltagssituationen nicht tragen kann, lernt sie zusätzlich Gebärdensprache. Die Kosten für ein spielerisches Lernprogramm landeten vor Gericht - Foto: Hauser

Ingolstadt (DK) Tiara (4) ist taub. Dass sie trotzdem Laute wahrnehmen kann, verdankt sie einem ins Ohr implantierten Gerät. Die Krankenkasse hat die Kosten für den Eingriff – mehrere Zehntausend Euro – übernommen. Dennoch gibt es einen Rechtsstreit. Es geht um „Tommys Gebärdenwelt“ – und knapp 250 Euro.

Die gute Nachricht vorweg: Als der DONAUKURIER bei der Kasse anruft und den Direktor der AOK Ingolstadt, Ulrich Resch, um eine Stellungnahme bittet, geht alles ganz schnell. Der Rückruf folgt keine halbe Stunde später: „Wir erkennen ,Tommys Gebärdenwelt' als Hilfsmittel an und zahlen die Rechnung.“ Eine entsprechende Mitteilung gehe ans Sozialgericht München, wo der Fall verhandelt wird. Mit der DK-Recherche habe die Entscheidung nichts zu tun, heißt es. Vielmehr mit einem neuen Gutachten, das die Gebärdensprache für Tiara als medizinisch notwendig betrachtet.

Weil „Tommys Gebärdenwelt“ im Gegensatz zu der ungleich teureren Hörprothese im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes nicht vorkommt, hatte die AOK die Kostenübernahme abgelehnt. Martin und Swenja Hachtkemper, Tiaras Eltern, legten Widerspruch ein. Als auch dies nicht zum Erfolg führte, nahmen sie sich einen Anwalt. Nach zwei gescheiterten Widerspruchsverfahren entschied das Sozialgericht zumindest, einen unabhängigen Gutachter einzuschalten.

„Tommys Gebärdenwelt“ ist eine computergestützte Möglichkeit, in kindgerechter Art und Weise die Gebärdensprache zu erlernen. Dies sei trotz Hörprothese, einem sogenannten Cochlea-Implantat, dringend notwendig, sagen Tiaras Eltern. „Es ist wichtig, damit wir mit ihr kommunizieren können.“ Denn ihre Hörprothese kann Tiara in vielen Alltagssituationen nicht tragen. Beim Duschen und Baden etwa, im Freibad oder in vielen Läden. Die elektrostatische Aufladung könnte einen Alarm auslösen. Oder noch schlimmer: Tiara könnte einen Stromschlag bekommen.

Doch ohne Hörprothese ist die Kleine komplett gehörlos. Und selbst mit dem eingesetzten Gerät, das mit seinen Elektroden den Hörnerv stimuliert, ist sie noch hochgradig schwerhörig. „Surditas beidseits“, heißt die medizinische Diagnose. Als Tiara geboren wurde und bereits erste Auffälligkeiten zeigte, hieß es im Krankenhaus, das Mädchen habe Wasser im Ohr. Die Eltern sollten sich keine Sorgen machen. Vier Wochen später habe ein HNO-Arzt gesagt, dass das Kind normal höre. Doch je älter Tiara wurde, umso mehr merkten die Eltern, dass etwas nicht stimmt. Nach einem wahren Ärztemarathon wurde schließlich in einer Spezialklinik in Großhadern festgestellt, dass das Kind taub ist. Selbst auf das stärkste Hörgerät hatte sie keinerlei Reaktion gezeigt. Ein Professor habe den Eltern gesagt: „Selbst, wenn Tiara direkt neben einen Düsenjäger stehen würde, sie würde ihn nicht hören.“

Im März 2011 wurde ihr deshalb das Implantat eingesetzt. Mit „Tommys Gebärdenwelt“ lernt sie zusätzlich Gebärdensprache. Den Mädchen und Buben des Anne-Frank-Integrationskindergartens hat sie schon ein paar Gebärden beigebracht.

Nicht die knapp 250 Euro sind es, die Martin und Swenja Hachtkemper auf die Barrikaden gebracht haben, sondern vielmehr die Begründungen für die ablehnende Haltung der Kasse in diversen Gutachten. Dass auch hörgesunde Menschen nicht in allen Situationen gleichmäßig kommunizieren könnten, sei in einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen gestanden. Lerne Tiara die Gebärdensprache, sei sie „doppelt versorgt“ und somit sozusagen besser gestellt als Gesunde, interpretiert die Mutter den entsprechenden Passus. „Es kann doch nicht sein, dass man so mit Menschen umgeht.“

Tatsächlich habe Tiara durch ihre Hörbehinderung im Leben sehr viele Nachteile. So mussten ihre Eltern beispielsweise lange nach einem Kindergarten suchen, der sie aufnahm. „Viele haben abgelehnt.“ Wenn Tiara in zwei Jahren in die Schule kommt, könnte es ähnlich sein. Dabei kommt die Kleine mit anderen Kindern bestens klar und scheint auch sonst sehr begabt. „Sie geht sogar in den Ballettunterricht“, erzählen die Hachtkempers. Nur mit dem Hören klappt es leider trotz Hörprothese nicht richtig. So versteht Tiara etwa statt „Turnen“ „Keule“. Es sei denn, sie hört das Wort in Gebärdensprache. Die lernt das Mädchen dank „Tommys Gebärdenwelt“ richtig schnell.