Ingolstadt
Mehr als nur eine kleine Horrorschau

19.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:55 Uhr
Ein Ort der Weltliteratur in Ingolstadt: Heike Marx-Teykal (l.) und Marion Ruisinger im früheren Seziersaal der Alten Anatomie. Das Plastikskelett aus dem Museum ist namenlos. Die Darstellung zeigt eine frühneuzeitliche Leichenöffnung vor Studenten. −Foto: Johannes Hauser

Ingolstadt (DK) Dieser Roman ist verstörend. Mysteriös. Düster und schillernd zugleich. Ein Höllenritt von Ingolstadt aus über die Abgründe der menschlichen Existenz. Frankenstein oder der moderne Prometheus“, erschienen 1818, stammt aus der Feder einer 19-Jährigen: der Engländerin Mary Shelley. Eine Annäherung mit Prof. Marion Ruisinger, der Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums und Heike Marx-Teykal, der Leiterin der Stadtbücherei.

Ein Medizinstudent an der Hohen Schule zu Ingolstadt, Victor Frankenstein, baut aus Leichenteilen einen Menschen zusammen und erweckt ihn mit Elektrizität zum Leben. Was für eine wahnsinnige Geschichte!

Marion Ruisinger: Darf ich ganz frech sein? In diesem Satz sind zwei Fehler: Er hat die Kreatur nicht nur aus Leichenteilen zusammengebaut, sondern er hat sich auch am Schlachthof bedient und er hat die Kreatur wie ein Bildhauer gestaltet – also aus Material, nicht nur aus Fragmenten zusammengesetzt. Nur dadurch konnte die Kreatur so groß werden: 2,40 Meter. Es wird immer wahnsinniger.

Und der zweite Fehler?

Ruisinger: Elektrizität kommt bei Mary Shelley nicht vor. Das wird zwar immer reingelesen, aber im Roman steht nur spark of life – der Funke des Lebens erweckte Frankensteins Kreatur zum Leben. Das kann auch metaphorisch gemeint sein. Die Autorin lässt es sehr, sehr offen, wie es genau geschieht.

Heike Marx-Teykal: Wobei jeder in dem Zusammenhang an die Entdeckung der Elektrizität im 18. Jahrhundert denkt, zum Beispiel an die Tierversuche mit Fröschen. Man wusste damals auch von einem hingerichteten Menschen, der durch Stromstöße zuckte, sich bewegte und so das Publikum erschreckte. Es liegt also nahe, dass Frankensteins Kreatur durch Elektrizität zum Leben erwacht.

Ruisinger: Völlig richtig. Doch das ist eine Interpretation. Man brauchte Apparate dazu, die im Text vorkommen. Aber das war es dann schon. Wichtig ist auch: Frankenstein hat seine Kreatur nicht als böses Wesen, also nicht als Monster geschaffen.

Welche Gefühle haben Sie bei der ersten Lektüre bewegt?

Marx-Teykal: Erschrecken. Schauer. Entsetzen. Abstoßen. Und natürlich auch Neugier.

Ab welchem Alter würden Sie die Lektüre des Frankenstein-Romans empfehlen?

Marx-Teykal: Das ist gar nicht so einfach zu sagen. Selbst der deutsche Text ist in den Übersetzungen keine einfache Lektüre. Das liegt am Satzbau, an den unklaren Erzählperspektiven, am verschachtelten Aufbau – kurz: In dem Roman steckt so viel drin! Wenn man ihn nicht nur als reinen Schocker lesen will, sondern auch ein bisschen von dem mitnehmen will, was über die Zeit erzählt wird, dann sollte der Leser mehr an der inneren Entwicklung der Figuren interessiert sein als an der äußeren Handlung. Das kann ein 17-Jähriger sein, das kann ein 70-Jähriger sein. Wer „Frankenstein“ als Krimiersatz lesen will, würde sich wahrscheinlich bald langweilen, weil in vielen Monologen viel erklärt wird.

Ruisinger: Ich habe „Frankenstein“ das erste Mal 2008 von vorn bis hinten gelesen, als ich erfuhr, dass ich den Job in Ingolstadt bekomme. Ich wusste, dass man Ingolstadt mit Frankenstein in Verbindung bringt, und wollte von Anfang an sicheren Boden unter den Füßen haben. Ich war dann ein wenig enttäuscht, dass die Stadt so unscharf bleibt. Meine dominierende Emotion war das Mitleid mit der Kreatur. Sie kommt ja ausführlich zu Wort. Sie wird als ganz sensibles, Liebe suchende Wesen geschildert, das zum Monster wird, weil es diese Liebe nicht bekommt. Ich war beim Lesen eher angerührt und gar nicht erschrocken.

Marx-Teykal: Ich habe „Frankenstein“ das erste Mal als Schülerin gelesen. Unter der Bettdecke. Meine Eltern hatten es mir verboten. Und da wird das ungleich gruseliger! Ja, das Mitgefühl mit der Kreatur, das ist ganz, ganz stark.

Ruisinger: Was ja erst einmal überrascht, wenn man die Figur nur aus den Verfilmungen kennt. Man erwartet nicht, dass sie einem sympathisch werden kann, ja dass man sich in sie hineinversetzen kann.

Marx-Teykal: Auch Frankenstein wird sympathisch. Zuerst dachte ich: Wie kannst du nur weglaufen vor deinem Menschen, deiner Kreatur, die völlig hilflos ist? Aber später gewinnt Frankenstein, weil er zerrissen ist, weil er versucht, den Schaden, den er angerichtet hat, wieder gutzumachen, weil er sieht, dass er seine Kreatur nicht glücklich machen, ihr nicht die Gefährtin schaffen kann, die sie ersehnt, weil Frankenstein dann eventuell ein Verbrechen an der gesamten Menschheit begeht, weil so Nachkommen der Kreatur entstehen könnten. Das hat wirklich viele Ebenen. Damit wird der Roman einprägsam.

Wir finden darin eine intensive Verdichtung bekannter sowie neuer literarischer Motive und Elemente: Hybris. Ein Mensch spielt Gott, und alles wird böse. Moderne Apparate. Abgründe der menschlichen Existenz, also eine frühromantische Thematik. Wie modern ist der Roman?

Marx-Teykal: Total modern! Er könnte von der Thematik her ein Roman des 20. Jahrhunderts sein. Es gibt ja auch Nachfolger mit dieser Thematik, also Schöpfung, wissenschaftliche und ethische Verantwortung. Was ihn davon abhält, ein vielgelesener moderner Roman zu sein, ist wohl die komplizierte Sprache. Heute ist die Sprache viel klarer. Schnörkelloser, auch in der Aussage. Viele Literaturwissenschaftler definieren mit „Frankenstein“ die Entstehung des Genres Science Fiction. Trifft das zu?

Marx-Teykal: Es steht überall, dass es der erste Science-Fiction-Roman ist. Das ist sicher insofern gerechtfertigt, als man hier eine naturwissenschaftlich-technische Entwicklung hat, die die Gesellschaft verändern könnte. Ich will das Urteil der Literaturwissenschaftler nicht in Zweifel ziehen, trotzdem habe ich ein Problem mit dieser Einordnung, weil es eben keine Entwicklung in eine Gesellschaft gibt. Frankenstein ist ein Forscher, der für sich alleine steht. Seine Schöpfung ist allein und bleibt allein. Beide haben keine Auswirkungen auf die Gesellschaft, durch sie wird keine Politik, keine Struktur verändert. Doch genau solche tiefgreifenden Veränderungen auf der Basis von Erfindungen sind charakteristisch für die Science-Fiction-Literatur.

Ruisinger: Genau. Die Gesellschaft wird hier nicht verändert. Es hat auch kein Nachspiel. Frankenstein bleibt bewusst stumm. Er verrät sein Geheimnis nicht, wie man Leben schöpft, weil er nicht will, dass einer diesen Fehler wiederholt.

Und das alles hat sich eine 19-Jährige ausgedacht! Als der Roman 1818 erschien, war Mary Shelley dann 21 Jahre alt.

Marx-Teykal: Es ist erstaunlich! Sie ist zwar in einem literarischen Umfeld aufgewachsen, aber sie hat dieses Buch wirklich mit 19 geschrieben. Es ist so durchdacht aufgebaut, mit einer anspruchsvollen Struktur. Sie hätte die Geschichte auch einfach geradlinig als Schauerroman schreiben können. Aber sie ist so bewundernswert vielschichtig, dass wir uns auch 200 Jahre später noch an Interpretationen versuchen.

Ruisinger: Mary Shelley hatte für eine 19-Jährige schon unglaublich viel erlebt. Sie hat sich ganz stark gegen gesellschaftliche Normen verhalten. Sie ist mit einem verheirateten Mann durchgebrannt, sie hat jahrelang in wilder Ehe gelebt, sie ist schwanger geworden, hat ein Kind verloren. Sie ist nie in die Schule gegangen. Sie stammte aus einem enorm gebildeten Haushalt und ist von ihrem Vater unterrichtet worden. Auch dadurch hat sie einen für ihre Zeit sehr ungewöhnlichen Wissensfundus mitgebracht.

Frankenstein ist also viel mehr als nur ein Schauerroman. Hatte Shelley gar eine Botschaft?

Marx-Teykal: Wenn sie eine Botschaft vermitteln wollte, ist es vielleicht die einer aufgeklärten Gesellschaft. Auch das war damals ein großes Diskussionsthema in einer gebildeten Schicht. Man sprach viel über die Französische Revolution. Napoleons Zeitalter ist gerade beendet worden. Die Ideen einer anderen Gesellschaft als der englischen sind klar zu erkennen. Und es geht natürlich um die Frage der Schöpfung. Wie gehe ich mit etwas um, das ich erschaffen habe? 1808 erschien auch Goethes „Faust“, Teil eins. Da geht es um ganz ähnliche Fragen. Oder man denke an Goethes „Zauberlehrling“: Auch da gerät etwas außer Kontrolle.

Warum eigentlich Ingolstadt? Wieso ließ Shelley Frankenstein in einer Stadt Gott spielen, in der sie nie gewesen ist, und die seit dem Jahr 1800 keine Universität mehr hatte? Der Ruf der Hohen Schule ist in deren letzten Jahrzehnten zudem nicht mehr der beste gewesen. Wie gelangt ein unbedeutendes bayerisches Städtchen in das Buch einer 19-jährigen Engländerin?

Ruisinger: Wegen des Illuminatenordens. Man weiß, dass Shelley mit ihrem späteren Mann Schriften über die Französische Revolution gelesen hat, in denen Ingolstadt als Gründungsort des Illuminatenordens erwähnt wird. Es war das Ziel dieses Ordens, einen neuen Menschen zu erschaffen. Einen radikal aufgeklärten Menschen. Nach dieser Vorstellung hatte das Monster der Französischen Revolution deshalb in Ingolstadt seinen Ursprung! Das ist klar nachgewiesen.

Marx-Teykal: Und es musste Deutschland sein, weil eine Schauergeschichte aus England damals in Deutschland spielen musste. A German Tale, wie die Engländer es nannten. Es war für die Autoren marketingtechnisch besser, wenn sie auf ihre Bücher schrieben: German Tale, eine deutsche Erzählung.

Wieso denn das bitte?

Marx-Teykal: Die schauerlichsten Locations waren nach dem damaligen Verständnis offenbar in Deutschland und besonders in Bayern.

Es gibt so viele schön gruselige schottische Spukschlösser!

Ruisinger: Das ist zu nah.

Marx-Teykal: Deutschland hatte um 1800 den Ruf – was ich wirklich erstaunlich finde! – die metaphysischste Nation in Europa zu sein. Das heißt, hier leben lauter Zauberer, Magier, Alchimisten. Das ist, was man nach dieser Vorstellung speziell in Bayern erwarten konnte.

Ruisinger: Die Hohe Schule in Ingolstadt war in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens in der Tat nicht besonders ruhmreich. Das gilt auch für die Medizinische Fakultät. Es gab zwar den 1735 in Betrieb genommenen Neubau der Anatomie, aber ein Gebäude allein macht noch keine gute Forschung. Da gab es Professoren, die wollten gar nicht sezieren, weil sie das ziemlich unappetitlich fanden. Ingolstadt war im 18. Jahrhundert völlig unbedeutend für die Medizin. Die großen Namen waren damals Göttingen, Halle, Wien. Ich glaube, dass es gerade die Farblosigkeit Ingolstadts in der Medizin erleichtert hat, hier so eine Geschichte spielen zu lassen. In Ingolstadt konnte Mary Shelley niemandem wehtun, weil es da niemanden gab, den man kannte. Es konnte sich also auch keiner beschweren.

Das Gespräch führte Christian Silvester.