Ingolstadt
Eltern im Förderwahn

Bestsellerautor Josef Kraus über verweichlichte Kinder und die Helikopter, die sie umschwirren

22.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:05 Uhr

Ingolstadt (DK) Sie spielen ihren Babys Mozart vor und gehen mit zur Immatrikulation an der Uni, sie bringen die Brotzeitbox in die Schule, wenn der Liebling sie vergessen hat, sie leben durch und für ihre Kinder – und lassen sie keine Sekunde allein: Helikoptereltern.

Sie sind das Lieblingsthema von Josef Kraus, Gymnasialdirektor und Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Mit seinem gleichnamigen Buch war er auf der Spiegel-Bestsellerliste. Gestern Abend hat er in einem vollen Saal des Apian-Gymnasiums eine Lesung gehalten. Zuvor hatte der geborene Kipfenberger Zeit für ein Interview mit dem DONAUKURIER zu Erziehung und Eltern von heute.

 

Herr Kraus, woher kommt denn die Bezeichnung „Helikoptereltern“?

Josef Kraus: Der Begriff kommt nicht von mir, sondern er hat sich vor drei, vier Jahren in den Vereinigten Staaten eingebürgert. Von mir kommt die Unterscheidung zwischen Transporthubschraubereltern, Rettungshubschraubereltern und Kampfhubschraubereltern.

 

Woran erkennt man denn die Transporthubschrauber?

Kraus: Also die Transporthubschrauber haben wir schon seit Langem, das sind die Eltern, die „Taxi Mama“ machen, die ihre Kinder bei drei Tropfen Regen am liebsten in die Aula einer Schule reinfahren würden. Es klagen ja immer mehr Städte auch darüber, dass die Zufahrtswege zu den Schulen blockiert sind, weil einfach immer weniger Kinder mit dem Fahrrad oder auch zu Fuß oder mit dem Bus in die Schule kommen, sondern wirklich mit dem Privattaxi angefahren werden.

 

Und die anderen beiden Kategorien?

Kraus: Die Rettungshubschraubermütter sind diejenigen, die sofort starten, wenn die Tochter oder der Sohn das Turnsackerl oder irgendein Heft vergessen hat. Und die Kampfhubschrauber, das sind diejenigen, die jede Entscheidung der Schule anfechten, und auch die von Kindergartenerzieherinnen oder Kinderärzten. In Amerika heißen sie „Black-Hawk-Parents“ – wie der amerikanische Kampfhubschrauber.

 

Wie kommt es zu dem Phänomen Helikoptereltern?

Kraus: Da gibt es verschiedene Gründe, die sind von Familie zu Familie unterschiedlich. Sicherlich ist ein Grund der Trend hin zur Einkindfamilie. Je weniger Kinder pro Familie da sind, desto mehr konzentrieren sich der Ehrgeiz und die Überversorgung von Eltern. Ich bin kürzlich auf einer Veranstaltung mal gefragt worden: „Herr Kraus, ich glaube, dass ich als Mama von einem dreijährigen Kind alle Kriterien einer Helikoptermama erfülle, was kann ich denn dagegen tun“ Da habe ich flapsig gesagt: „Sich ein zweites und ein drittes Kind anschaffen, dann haben Sie gar nicht mehr die Zeit dazu, das alles zu machen!“

Was sind noch Gründe?

Kraus: Das Gerede: Dein Kind hat erst mit Abitur, mit dem Bachelor und mit dem Master eine Chance. Die Angst der Mittelschicht spielt eine Rolle, die unbegründet ist. Außerdem dieser ganze Alarmismus, den wir haben – es gibt immer mehr Unfälle mit Kindern, es gibt immer mehr Missbrauch mit Kindern, alles statistisch gar nicht belegbar. Und irgendwo auch der Förderwahn, der von der modernen Hirnforschung angestoßen wird: Ja kein Zeitfenster versäumen, Mozart schon im Mutterleib.

 

Zu was für Erwachsenen werden diese Kinder?

Kraus: Ich befürchte, dass wir unmündige, unselbstständige Erwachsene bekommen, und wenn ich sehe, dass mittlerweile auch die Hochschulen für Eltern Abende und Schnupperwochenenden machen, dann muss ich fragen: Ja, haben wir denn heute Kinder, die sich das gefallen lassen? Offensichtlich schon. Denen gefällt das, dass sich auch um den 19-Jährigen noch Mama und Papa kümmern und sie dabei sind bei Immatrikulation und Wohnungssuche. An der Uni Freiburg hat man das Stadion gemietet, weil man wusste, es kommen etwa 10 000 Eltern zur Informationsveranstaltung für Erstsemester. Eine weinerliche Generation kommt da, mit obendrein aber gigantischen Ansprüchen.

 

Was passiert, wenn die Kinder die Anforderungen ihrer Eltern nicht erfüllen können?

Kraus: Dann gibt es Dramen, dann lassen die Eltern ihre Kinder spüren, dass sie von ihnen enttäuscht sind – und das kann für ein Kind sehr, sehr verletzend sein, wenn es merkt: Meine Eltern sind mit mir nicht zufrieden, sie möchten ein anderes Kind haben.

 

Wie sollten Ihrer Meinung nach also die perfekten Eltern sein?

Kraus: Es gibt keine perfekten Eltern, alleine die Vorstellung, perfekt sein zu müssen, ist schon falsch. Darum versuche ich immer, den Eltern klarzumachen: Geht einfach mit ein bisschen Bauchgefühl und einer Portion Leichtigkeit an das Erziehen ran, ihr könnt keine perfekte Erziehung hinkriegen. Erziehung ist nur ein begrenzt planbares Unternehmen. Alles planen zu wollen, im Grunde schon vor der Geburt Fötagogik zu betreiben – das ist falsch. Nehmt eure Kinder, wie sie sind, sagt auch mal „Nein“, Kinder reifen an gelegentlichen, kleinen Enttäuschungen, sie sollen aber auch die Chance haben, sich selbst zu erproben. Nur Kinder, die etwas selbst geleistet haben, entwickeln auch Selbstvertrauen und die Chance, Stolz zu erleben.

 

Wer interessiert sich denn besonders für Ihre Vorträge? Helikoptereltern?

Kraus: Das ist interessant, wer da kommt. Ich habe bestimmt schon 70 oder 80 Vorträge quer durch Deutschland gehabt. Ich habe Eltern und angehende Eltern, ich habe Großeltern, ich habe natürlich Lehrer. Kürzlich bin ich zu einem internationalen Ärztekongress eingeladen worden, um darüber zu referieren, weil die ähnliche Erfahrungen machen in ihren Arztpraxen. Auch interessant ist es zu sehen: Es sind zu 80 Prozent Frauen oder Mütter, die kommen, und nur zu 20 Prozent Männer. Es kommt relativ selten Widerspruch. Es kommt wenn dann die Frage: „Herr Kraus, ich schildere Ihnen, was ich mache – bin ich damit schon Helikoptermama“ Was Lustiges habe ich kurz vor Weihnachten in Mainz erlebt: Da kam ein Großelternpaar, Ende 60, hat mein Buch dreimal gekauft – die haben drei Kinder und jeweils zwei Enkel – und haben gesagt: „Das schenken wir unseren jungen Leuten, weil wir das Gefühl haben, die werden Helikoptereltern – aber zu Weihnachten kriegen sie das Buch nicht, weil zu Weihnachten möchten wir keinen schiefen Haussegen haben.“

 

Wie ist das bei Ihnen zu Hause?

Kraus: Ich bin jetzt selbst seit zwei Jahren Opa und in einem Vierteljahr werden meine Frau und ich zum zweiten Mal Großeltern. Ich war kein Helikoptervater, dafür war ich einfach zu viel außer Haus, aber ich beobachte mich manchmal bei unserem zweijährigen Moritz, dass ich das Zeug zu einem Helikopteropa hätte.

 

Und wie waren Ihre eigenen Eltern?

Kraus: Ich bin in Eichstätt aufgewachsen, meine Eltern haben so eine klassische Aufgabenverteilung gehabt: Mein Vater war mehr für die groben Richtungen, für die Schullaufbahn und durchaus auch für die Strenge da, die Mama war eher für das Gütige, für das Großzügigere da. Das hat sich dann, als wir älter wurden – wir sind drei Brüder – zum Teil ein bisschen umgekehrt: Da war die Mama dann die Strengere und der Papa der etwas Tolerantere. Aber helikoptermäßig erzogen wurden wir nicht. Da war mehr Gelassenheit da. Unsere Mutter hätte auch gar nicht die Zeit gehabt, hinter drei Söhnen ständig wie eine Überwachungsdrohne her zu sein.

 

Das Interview führte

Isabel Ammer