Ingolstadt
Eine Zeitreise durch die Fabrik

Kurz vor seinem Tod machte Fritz Böhm eine Werksbesichtigung – Gesamtbetriebsratsvorsitzender Peter Mosch erinnert sich

11.01.2013 | Stand 03.12.2020, 0:37 Uhr

Eine letzte Fahrt durch die Fertigung: Nur wenige Wochen ist es her, da machte der inzwischen verstorbene Fritz Böhm eine Werksbesichtigung mit Peter Mosch. Der 92-Jährige wollte sich noch einmal seine Fabrik anschauen. Er erkannte sie kaum wieder und staunte über die menschenwürdigen Arbeitsbedingungen heute - Foto: oh

Ingolstadt (DK) Hatte er gespürt, dass es Zeit wird, Abschied zu nehmen? Wollte er deshalb noch einmal aufbrechen zu einer letzten Tour durch seine Fabrik, die er mit aufgebaut hatte? Noch einmal die gewaltigen Stöße des Presswerks spüren, Maschinenöl riechen, das Band laufen sehen, von dem am Ende wie durch ein Wunder das fertige Auto gleitet


Es ist einige Wochen vor Weihnachten, als Peter Mosch einen Anruf von Fritz Böhm erhält. Der 92-Jährige hat einen Wunsch – einen ganz besonderen Wunsch sogar. Er will noch einmal die Fertigung sehen. Diese Bitte kann der Audi-Gesamtbetriebsratsvorsitzende seinem großen Vorbild natürlich nicht abschlagen. Er sei schon jahrelang nicht mehr in der Produktion gewesen, erklärt Fritz Böhm. Jetzt wolle er alles noch einmal sehen.

„Also haben wir so ein Elektrowägelchen organisiert, das es für spezielle Gäste gibt“, erinnert sich Mosch. „Und dann bin ich mit ihm losgefahren – durch alle Straßen und Gassen.“
Es wird eine Zeitreise. Fritz Böhm, gebeugt und gebrechlich vom Alter – aber die wachen Augen wandern noch lebhaft hin und her. Erfassen jedes Detail. Im Karosseriebau staunt er: Wo sind die Männer mit den langen Schweißzangen geblieben, der Dreck, die Hitze? Roboter verrichten längst diese einst schweißtreibende und schmutzige Arbeit. Jetzt ist es überall so sauber, dass man vom Boden essen könnte.Peter Mosch lenkt den Wagen in die Montage. Hier sind Menschen.

Doch im Gegensatz zu früher, als die Fahrzeuge auf dem Band standen und die Arbeiter um sie herum wuselten, ins Innere krabbelten, sich bückten und streckten, bewegt sich heute das Auto, schwenkt oder hebt ab, um dem Menschen die Arbeit zu erleichtern. Immer wieder ruft Böhm: „Stopp, stopp!“ Etwa da, wo der Monteur auf einem Sitz ins Fahrzeuginnere gleitet, um die Kabel in der Mittelkonsole zu verlegen. Oder dort, wo die Hochzeit stattfindet. Einst wuchteten die Arbeiter den schweren Motorblock von vorne in die Karosserie.Jetzt geht das alles vollautomatisch.

Fritz Böhm ist begeistert: „Ihr könnt stolz sein auf die menschlichen Arbeitsbedingungen heute“, meint er. „Den Kampf dafür haben wir einst begonnen.“ Am Ende der Besichtigung ist Fritz Böhm entgegen seiner sonstigen Natur ganz still. „Diese Erlebnisse haben ihn tagelang beschäftigt“, erinnert sich Peter Mosch. Für beide Männer, deren Leben sich stets um Audi und die Arbeitnehmerschaft drehte und dreht, war es ein berührendes Erlebnis. „Zwei Stunden bin ich mit ihm durchs Werk gefahren“, sagt Peter Mosch mit bewegter Stimme. „Ich bin froh, dass ich mir die Zeit genommen habe.“ Jetzt erst recht, nachdem der alte Kämpfer für immer fort ist.