Ingolstadt
Eine Jahrhunderterscheinung

Ingolstadt und Audi verdanken Fritz Böhm viel – mit 92 Jahren ist der Ehrenbürger jetzt gestorben

10.01.2013 | Stand 03.12.2020, 0:37 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Er war 34 Jahre lang Betriebsratschef bei Audi, rettete den Standort Ingolstadt, saß für die SPD lange im Stadtrat, dazu im Landtag und im Bundestag: Fritz Böhm hat eine außergewöhnliche Lebensleistung vorzuweisen. Im Alter von 92 Jahren ist der Ingolstädter Ehrenbürger gestorben.


Die Szene trug sich vor genau einem Jahr im Gewerkschaftshaus zu: Die Delegierten der IG Metall diskutierten, wie viel sie in der anstehenden Tarifrunde fordern sollten. Da erhob sich ein Gast der Versammlung und trat ans Mikrofon für „eine Verständnisfrage“, wie er sagte. „Gibt es einen Nachholbedarf aus früheren Jahren? Sind wir sonst zu schlecht weggekommen? Dann wären jetzt 6,5 Prozent zu wenig“, sagte der Herr und heizte die Diskussion an: Die IG Metall müsse sich der gesellschaftspolitischen Debatte endlich stellen.

Das war nichts anderes als ein Aufruf zum großen Verteilungskampf um das Kapital in der deutschen Wirtschaft. Er kam von einem damals 91-Jährigen, der seinen „Einwurf“ selbst in diesem Alter mit Kraft und Leidenschaft vortrug, so wie er es immer gemacht hatte. Der Herr war niemand anderes als Fritz Böhm, Ehrenbürger und einst unbeugsamer Betriebsratschef von Audi.

Kämpfe für die Selbstbehauptung zogen sich wie ein roter Faden durch das Leben und Werk von Fritz Böhm. Der Gegner hieß dabei immer Volkswagen. Als Chef des Gesamtbetriebsrats der Auto Union und der Audi AG (1951 bis 1985) hatte Böhm viele Auseinandersetzungen mit der Konzernmutter und deren Chefs auszufechten. Er meisterte sie mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein immer auf Augenhöhe, eisern kämpfte er für die Belange der Beschäftigten. Mit ihnen im Rücken verhinderte er mehrfach, dass die Eigenständigkeit der Ingolstädter verloren ging. „Eine blutige Nase nehme ich immer in Kauf!“ So lautete eines seiner Lebensmottos. Das zweite stammte von Goethe: „Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes werden, als dienendes Glied schließ’ an ein Ganzes dich an.“

Das brachte ihm großen Respekt seiner Kontrahenten ein. Ausgerechnet Carl Hahn, einer der Lieblingsgegner Böhms, schrieb in seiner Biografie: „Böhm besaß außergewöhnliche politische Autorität und intellektuelle Unabhängigkeit. Für den Fortbestand von Audi war Böhm von kaum zu überschätzendem Einfluss. Er kannte nur die Interessen von Audi.“

Der im Jahr 1920 in Jägerndorf (Sudetenland) als Sohn eines Textilarbeiters geborene Böhm hatte sich vom Lagerarbeiter (für 77 Pfennige schleppte er Rohre) bei der Auto Union zum Betriebsratschef hochgearbeitet. Als er vor zwei Jahren seinen 90. Geburtstag feierte, machten alle ihre Aufwartung: von VW-Boss Martin Winterkorn bis hin zu VW-Patriarch Ferdinand Piëch. Auch das gesamte politische Lager aus Ingolstadt ließ den Jubilar noch einmal hochleben. Im Jahr 2000 hatte der Stadtrat ihm bereits die Ehrenbürgerwürde verliehen. Für die SPD, seine Partei, ist Böhm eine Jahrhunderterscheinung, das wurde ihm schon attestiert. Viele Jahre saß er im Stadtrat, im Landtag und im Bundestag. Auch hier hieß es für Fritz Böhm: „Was wir uns nicht erkämpfen, werden wir nicht besitzen.“ Am 22. Februar wäre er 93 Jahre alt geworden.