Ingolstadt
Ein Knall, Schreie und dann fünf Schüsse

Tonmitschnitt aus dem Rathaus liefert dem Landgericht einen lebendigen Eindruck vom blutigen Ende der Geiselnahme

30.09.2014 | Stand 02.12.2020, 22:10 Uhr

−Foto: Oliver Strisch

Ingolstadt (DK) Zuerst war nur das Piepsen aus den Lautsprechern zu hören, wie es jeder kennt, der schon mal auf seinem Computer irgendwelche Ordner geöffnet hat. Dann, als die Gerichtsmitarbeiterin die Tondatei startete, zeriss ein Knall die Stille, gefolgt von Brüllen („Polizei!!!“) und fünf Schüssen in schneller Folge.

Danach Schmerzensschreie und wieder Brüllen („Auf den Boden!!! Auf den Boden!!!“). Danach endete die Übertragung – und die Geiselnahme im Alten Rathaus von Ingolstadt.

So hautnah wie nie versetzte sich das Landgericht gestern im Sitzungssaal mit dem Abspielen eines Tonmitschnitts zum 19. August 2013 zurück. Just in die Sekunden um Viertel vor sechs, als das Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei nach dem Sprengen der Tür in das Vorzimmer von Bürgermeister Sepp Mißlbeck gestürmt war und den bewaffneten Geiselnehmer nach einem neunstündigen Nervenkrieg kampfunfähig schoss.

Man musste schon genau hinhören und mitzählen, um die fünf Schüsse mitzubekommen, die ein SEK-Beamter – der fast mysteriöse „Schütze Nummer 133“ – aus seiner Maschinenpistole MP7 abfeuerte und den 25-Jährigen in die linke Schulter, in die linke Hand und (von hinten!) in den rechten Oberschenkel traf. Ein Projektil blieb in der Schulter stecken, eine andere Kugel fast unversehrt im Oberschenkel. Die Hand wurde durchschossen, und zwar quer, also von der Handkante her. Dadurch ist die gesamte Hand des 25-Jährigen „weitestgehend unbrauchbar geworden“, denn „alle Langfinger sind steif“, berichtete Prof. Michael Wenzl. Der Unfallchirurg hatte den schwer verletzten Geiselnehmer mit einem Handspezialisten seinerzeit im Ingolstädter Klinikum operiert. „Alles, was Griffbewegungen betrifft, geht nicht mehr“, habe eine Nachuntersuchung ergeben.

Das Landgericht schaute sich auch an, in welchem Winkel die fünf Kugeln von dem – und das wurde gestern erstmals öffentlich bekannt – Soloschützen auf den bewaffneten Geiselgangster abgefeuert wurden. Ein Ingenieur für Waffentechnik des Landeskriminalamtes (LKA) entkräftete vor Gericht dabei einen Vorwurf, den der überwältigte 25-Jährige in einer Vernehmung bei der Polizei geäußert hatte: Dass die tatsächlich seltsam anmutende Oberschenkelwunde, mit Einschussloch auf der Rückseite, durch „einen aufgesetzten Schuss“ entstanden sei, als er bereits am Boden gelegen war. „Das ist auszuschließen. Dann hätten wir schwarze Ablagerungen auf der Hose gefunden“, sagte der LKA-Experte.

Am 19. August 2013 hatte er sich nach der Schießerei das Rathaus und die Waffen angeschaut. Im 30er Magazin der Polizei-MP7 fand er noch 24 Patronen und dazu eine im Lauf. Das passte mit den fünf Hülsen zusammen, die im Rathaus gefunden worden sind, sagte der Waffentechniker. Die Soft-Air-Pistole Walther P22, die der Geiselnehmer führte, sei dagegen „in der Kategorie Spielzeug“ anzusiedeln. Sie entspricht aber „in Form und Größe dem scharfen Modell des Herstellers“, sieht also zum Verwechseln ähnlich aus.

Die vier Opfer mussten also glauben, eine echte Pistole zu sehen. Das werden die restlichen Geiseln (Bürgermeister Mißlbeck, der städtische Beschwerdemanager und seine Mitarbeiterin) am 9. Oktober bestimmt bestätigen, wenn sie nach der Vorzimmerdame des Bürgermeisters endlich aussagen. Übrigens auch nach „Schütze Nummer 133“, der an diesem Tag kurz vor ihnen anonym drankommen wird.

Fortgesetzt wird der Prozess allerdings bereits am morgigen Donnerstag mit dem fünften Verhandlungstag.