Ingolstadt
Die Welt in die kleine Form fassen

Die Lyrikerin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Nora Gomringer las im Reuchlin-Gymnasium

22.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:26 Uhr

Aufmerksame Vortragende: Nora Gomringer las und rezitierte nicht nur, sondern beantwortete gerne Fragen der jungen Leute. - Foto: bfr

Ingolstadt (DK) Mit ihren Sprechtexten, Gedichten und ihrer Moderation begeisterte gestern Autorin Nora Gomringer die Schüler des Reuchlin-Gymnasiums.

Angekündigt war es als "Lesung Nora Gomringer". Am Ende der abwechslungsreichen Stunde, während der in der voll besetzten Pausenhalle des Reuchlin-Gymnasiums mal aufmerksame Stille herrschte, die Schülerinnen und Schüler spontan Fragen stellten, wurde die Lyrikerin, Rezitatorin und Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2015 von den jungen Menschen umringt. "Ich war überrascht, wie viel Persönliches sie preisgibt", sagte Oliver Mößmann (Q 12). "Nichts ist abgehoben, alles so konkret, lebendig und nachvollziehbar", fügte Kilian Funk (Q 12) hinzu. Und Mariam Avaliani (Q 11) ergänzte: "Es war eine starke Performance." Die beiden Schüler und die Schülerin hatten auf Anregung ihres Lehrers Christian Albert die 37-Jährige vorgestellt und begrüßt.

Tatsächlich war Nora Gomringer wieder einmal in ihrem Element, sieht sie sich selbst doch nicht nur als Autorin, sondern auch als Vermittlerin von Kultur und Kunst, vor allem der Sprache, der "Fülle des Reichtums der deutschen Sprache", wie sie ihrem "Ursprungs-Alphabet" voranstellte. Darin buchstabiert Gomringer das, was sie geprägt hat, ihre Herkunft aus einer Familie in der Mitte Europas (sie ist schweizerisch-deutscher Herkunft), ihre Bildung (mit alten Sprachen, mit Englisch, Spanisch). Immer sei da ihre Neugierde auf Lyrik gewesen, die Frage "Wie fassen die Menschen die Welt in die kleine Form". Deshalb schreibe sie selbst Gedichte, Sprechtexte oder Auftragstexte für Kataloge von Künstlern, arbeite sie mit Gedichten anderer, die sie auch vertont wie das "Schlaflied für die Sehnsucht" Selma Meerbaum-Eisingers, der jüdischen Dichterin, die 18-jährig im Arbeitslager starb.

Das ist ihre besondere Kunst, mit der sie die jungen Leute gestern in den Bann schlug: Gomringer ist ausgebildete Sopranistin ("Ich wollte Musicalkünstlerin werden."), liest nicht nur, vielmehr singt, gluckst, schnarrt, seufzt, flüstert sie, dehnt Vokale, spricht im Stakkato, wendet sich wieder ihren Zuhörern zu, um zu erzählen. Von Begegnungen mit Menschen und deren Geschichten, die in ihre "Monster Poems" eingeflossen sind, jenen in Gedichte gefassten Ängsten und Albträumen, wie der Missbrauch, von dem ihr eine junge Frau mit umgedeuteten Wörtern erzählt hat.

Sie selbst arbeite ähnlich, sagt sie, um Tabus, das Unaussprechbare, zu beschreiben wie im Liebesgedicht "Du baust einen Tisch", das von Eifersucht handelt. Sie legt den Finger in die Wunden, wenn man sich selbst belügt wie in "Wir hätten nicht mitgemacht", Teil des Tryptichons, der Auftragsarbeit, damit Schüler über den Holocaust nachdenken.

"Hoffentlich kommen Sie noch einmal an unsere Schule" hieß es denn einmütig bei allen Schülerinnen und Schülern, ihrem Lehrer Christian Albert und Schulleiterin Edith Philipp-Rasch.