Ingolstadt
Die Tonspur eines Nervenkrimis

Geiselnahme im Rathaus: Gericht hört die Telefonmitschnitte der Polizei an

24.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:04 Uhr

Ingolstadt (DK) Geiselnahme im Alten Rathaus – und die komplette Besetzung des großen Sitzungssaals im Landgericht ist plötzlich mittendrin: Minuziös hat die Schwurkammer unter Vorsitz von Vizepräsident Jochen Bösl am Freitag anhand von Telefonmitschnitten der Polizei die Kommunikation zwischen Geiselnehmer und Verhandlungsführer während des Dramas am 19. August 2013 nachvollzogen.

Mancher Satz des Täters wirkt im Nachhinein unfreiwillig komisch, doch in jenen Stunden, als der inzwischen 25-jährige Mann zeitweise vier Rathausmitarbeiter in seiner Gewalt hatte, war niemandem zum Lachen zumute gewesen.

Wie berichtet, ist das Verfahren gegen den Geiselnehmer bereits von mehreren Ausfällen und Störmanövern des Angeklagten überschattet worden. Diesmal konnte davon aber keine Rede sein. Der Mann versuchte zu Beginn des Verhandlungstages lediglich erneut, sich krank zu melden. Weil der Landgerichtsarzt jedoch keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen feststellen konnte, ging das Tagespensum der Kammer dann aber nach Zeitplan voran. Der Angeklagte hatte nur wenige Zwischenfragen und setzte immer wieder mal ein selbstgefälliges Grinsen auf. Ansonsten blätterte er mit Ausdauer in einem mitgebrachten Taschenbuch.

So entspannt war es weder für ihn noch für die Einsatzkräfte der Polizei an jenem denkwürdigen Tag im Sommer 2013 im Alten Rathaus keinesfalls zugegangen. Die Befragung des Verhandlungsführers der Ingolstädter Kripo und auch die dem Gericht vorliegenden Tondateien ergaben das Bild einer nervenzehrenden Lage, in der die Polizei geschickt versucht hatte, mit Spiel auf Zeit und unaufgeregten Telefonaten mit dem Geiselnehmer die Lage zu sondieren und allmählich unter Kontrolle zu bekommen.

Von Beginn an habe man gemerkt, es mit einem durchaus intelligenten und zielstrebigen Täter zu tun zu haben, berichtete der Kripomann im Zeugenstand. Nur nach und nach war man allerdings auf die Motive und das Ziel des Täters gekommen (er wollte, wie schon ausführlich berichtet, ein formelles Entschuldigungsschreiben für angebliche Versäumnisse des Frankfurter Jugendamtes in seiner Kindheit).

Die Telefonmitschnitte ergaben ein gutes Bild davon, wie die Stimmung des Geiselnehmers in jenen Stunden bis zum Eingreifen eines Sondereinsatzkommandos der Polizei immer wieder schwankte. Phasen mit jovialen, mitunter sogar euphorischen Bemerkungen folgten – immer dann, wenn er sich von den Sicherheitskräften zu sehr unter Zugzwang gesetzt fühlte – brutale Drohungen: Er „knalle alle ab“ (bezogen auf Beamte im Treppenhaus des Rathauses), werde seiner weiblichen Geisel „eine Kugel in den Kopf jagen“, wenn seine Forderung nach einem Kopfschmerzmittel für die Frau nicht schleunigst erfüllt werde, hieß es da unter anderem.

Im Hintergrund war auch einmal Bürgermeister Sepp Mißlbeck (selber ja Geisel) zu vernehmen, der über die Verzögerungstaktik der Polizei offenbar vorübergehend ebenfalls in Rage geraten war. Er hatte sich unüberhörbar Sorgen gemacht, dass der Täter womöglich im Laufe des Tages zu nervös und damit völlig unberechenbar werden könnte.

Die Tonprotokolle endeten mit dem Zugriff des Einsatzkommandos während des letzten Telefonats mit dem Geiselnehmer: Explosionsknall, Schüsse, Schreie und Kommandos – dann war das bundesweit beachtete Ingolstädter Geiseldrama vorüber. Den finalen Schusswaffengebrauch sieht die Polizei heute wie damals als gerechtfertigt an. Das Szenario sei zum Schluss darauf hinausgelaufen, dass der Täter mit seiner weiblichen Geisel alleine bleiben wollte. Das, so eine Kripobeamtin jetzt vor Gericht, sei als „sehr gefährlich“ eingeschätzt worden.

Der Prozess wird erst am 10. November fortgesetzt – dann mit Vorstellung der psychiatrischen Gutachten und wohl auch bereits mit den Plädoyers.