Ingolstadt
Die Mauer aus Sorgen einreißen

Scherbenandacht in St. Augustin für Menschen "allein auf weiter Flur"

22.12.2014 | Stand 02.12.2020, 21:50 Uhr

Eine symbolische Mauer aus all denen, die an Weihnachten allein sind, wird bei der Scherbenandacht errichtet – um danach abgerissen zu werden. - Foto: Bauer

Ingolstadt (DK) Weihnachten abseits von der Familie, Weihnachten in einer Umbruchsituation – das ist für viele Menschen nicht einfach. Gerade ihnen widmen sich Scherbenandachten – wie am Sonntag in St. Augustin.

„Allein auf weiter Flur“ – unter diesem Motto standen die Momente der Besinnung. Mauersteine aus Pappe liegen in der Kirche St. Augustin verteilt. Sie beinhalten die Nöte und Sorgen vieler Menschen, die Weihnachten in diesem Jahr nicht in vertrauter Umgebung feiern können. In den Wandnischen brennen unzählig viele Lichter. Ganz ruhig ist es in dem sakralen Raum, als die Orgel einsetzt. Stefan Herrmann spielt passend zum Thema ein Musikstück aus dem Album „The Wall“ der britischen Rockband Pink Floyd. Nach einer kurzen Zeit der Besinnung beginnen die Scherbenteammitglieder, mit den in der Kirche verteilten Steinen im Altarraum eine Wand aufzubauen. Vor einem gedeckten Weihnachtstisch.

„Allein auf weiter Flur – Weihnachten abseits der Familie“ ist das Thema der Scherbenandacht, veranstaltet vom Scherbenteam in Zusammenarbeit mit der City-Seelsorge und dem Kriseninterventionsteam. Dabei geht es um Schicksale von Menschen in Umbruchsituationen, vor allem um die, die an Weihnachten nicht bei ihren Lieben sein können. Um die Alleinstehenden, um unbegleitete Kinder und Jugendliche im Asyl, Obdachlose, um Berufssoldaten im Ausland und die Einsatzkräfte im Sozialbereich, um Kranke, Inhaftierte, Alleinstehende und Nachbarn.

Vor den Augen der Besucher entsteht aus den vielen Situationen der Einsamkeit eine Mauer, die den festlich gedeckten Tisch ganz verdeckt. Die Besucher werden aufgefordert, sie wieder abzubauen. Jeder soll einen „einsamen Menschen“ auswählen, dem er in der Gemeinde, in der Kirche einen Platz gewährt. „Für heute wurde den Menschen in diesen Situationen ein Raum gegeben, ein Raum in unserer Gemeinschaft, ein Raum in der Kirche. Manche haben zu Weihnachten einen solchen Raum, manche nicht“, sagt Pfarrer Erich Schredl.

Die Alltagserfahrung der Ausgrenzung aus der Gesellschaft in der Nazizeit zeigen Auszüge aus „Viktor Klemperers Tagebuch“. Doch der Ausgrenzung in der heutigen Zeit kann entgegengewirkt werden. Symbolisch holen die Besucher Licht von der Festtagskerze und stellen es auf den einzelnen Mauersteinen ab. Schredl zitiert Bertolt Brecht: „Denn die einen sind im Dunkeln und die anderen im Licht; und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Passend dazu spielt der Organist das Stück „Outside the Wall“.

Die Scherbenandachten finden dreimal im Jahr statt. Sie sind ein Angebot der Besinnung für alle, die in ihrem Leben vor Brüchen und Scherben stehen, für Menschen in Krisen- oder Umbruchsituationen. Die nächsten Andachten sind im nächsten Jahr im April und September geplant.