Ingolstadt
Die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit

Falscher Bericht über Schlagstock-Einsatz gegen Fußballfan kostet Ingolstädter Polizist womöglich den Job

23.04.2015 | Stand 02.12.2020, 21:23 Uhr
Die Ruhe vor dem Sturm: Während sich der FC Ingolstadt (rote Trikots) mit dem FC Eintracht Bamberg auf dem Feld duellierte, bahnte sich am 26. Juli 2013 im Hintergrund schon der Konflikt zwischen einigen gewaltbereiten Gästefans und der Polizei an. Am Hauptbahnhof eskalierte die Lage. −Foto: Archivfoto: Bösl

Ingolstadt (DK) Ein Ingolstädter Polizeihauptmeister kämpft seit gestern am Landgericht um seine Existenz. Der 39-jährige Familienvater soll einen Bericht über einen Schlagstock-Einsatz in tumultartigen Szenen gegen einen Krawallmacher beim Fußball gefälscht haben. Seine Kollegen zeigen große Solidarität.

Die Anteilnahme war zwar nicht mehr ganz so groß wie im vergangenen Herbst am Amtsgericht, als Beamte der Ingolstädter Inspektion den kleinen Sitzungssaal nahezu füllten. Dass gestern nun etwas weniger Kollegen des angeklagten Hauptmeisters am Landgericht den Auftakt der Berufungsverhandlung besuchten, könnte auch daran liegen, dass die 4. Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Konrad Kliegl noch mehr Polizisten in den Zeugenstand beruft. Bis weit nach 17 Uhr verhandelte die Kammer gestern in aller Ausführlichkeit, denn sie weiß auch um die Brisanz des Verfahrens. Tränen waren im Herbst geflossen, als der 39-jährige Polizist am Amtsgericht zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Die Strafe ist zwar zur Bewährung ausgesetzt, doch sollte sie rechtskräftig werden, wird der Familienvater automatisch aus dem Dienst entfernt und verliert alle Pensionsansprüche. Er kämpft also wortwörtlich um seine Existenz. Und das, so die Meinung der Polizisten und vieler Beobachter, weil er damals am 26. Juli 2013 den Kopf für die Öffentlichkeit gegenüber gewaltbereiten Fußballfans hingehalten hatte.

An jenem Freitagabend wurde die Ingolstädter Polizei von einer Horde mit rund 25 bis 30 Bambergern konfrontiert, die den sommerlichen Regionalligakick zwischen dem FC Ingolstadt II und dem FC Eintracht aus der Weltkulturerbestadt im ESV-Stadion als große Bühne für Ausschreitungen nutzten.

Wie der Gästeverein nachher in einem Entschuldigungsschreiben selbst bedauerte, flogen schon bei der Anreise am Hauptbahnhof Böller, bengalische Feuer wurden abgebrannt. Ein Gästefan raubte an der Stadionkasse rund 40 Eintrittskarten. Die überraschte Ingolstädter Polizei schickte, was sie hatte, nach Ringsee. Der Dieb wurde festgenommen, die anderen Fußballfans überwacht und nach dem Spiel zum Zug geleitet. Doch der harte Kern wollte ohne den festgesetzten Kartenräuber nicht abreisen, ihn quasi unter Androhung von Randale freipressen, die Polizei ihn freilich aber nicht einfach ziehen lassen. Also schaukelte sich die angespannte Situation hoch.

Bis hierhin ist die Lage auch unwidersprochen, da gestern vom extrem erfahrenen Einsatzleiter der Ingolstädter Polizei bis hin zu mehreren Bamberger Fans viele Beteiligte von damals aussagten und im Kern alles bestätigten – mal mehr, mal weniger von der Blickrichtung gefärbt.

Die Polizei wollte die „Fußballfans“ dann vom Bahnhof haben und drängte sie die Treppen hinunter in die Unterführung zum Gleis 4, einige gingen freiwillig, andere zeigten sich hartnäckiger. In dieser aufgeheizten Stimmung ereignete sich dann der folgenschwere Zwischenfall, der den angeklagten Polizisten den Job kosten könnte. Er schlug einem Fan, von dem er sich angegriffen fühlte, mit dem Schlagstock vier Mal gegen Arm und Beine. In den Einsatzbericht schrieb der erfahrene Polizist, er habe den 24-Jährigen aus Bamberg gesehen, wie er eine Glasflasche am Treppengeländer zerschlug und auf ihn losgehen wollte. Zuvor sei er von ihm in den Rücken getreten worden.

Doch dieser Bericht ist nachweislich falsch: Das zeigt ein 21 Sekunden langes „Entlastungsvideo“, das sich das Gericht gestern Dutzende Male anschaute. Ein Bamberger Fan hatte es am Hauptbahnhof aufgenommen. Es zeigt den 24-jährigen Fan – übrigens mit zwei Promille abgefüllt – wie er dem Polizisten am Treppenabsatz von hinten einen heftigen Schubser mit der Hand gibt. Die intakte (!) Bierflasche wird ihm dann aber von einem anderen Polizisten weggenommen, ehe der Angeklagte – nach Meinung der Staatsanwaltschaft und des Nebenklagevertreters „völlig überzogen“ – zuschlägt.

Doch viel schlimmer als der Schlagstockeinsatz, den der in vielen Schlachten gestählte Vorgesetzte des Angeklagten gestern in einem flammenden Plädoyer verteidigte, wiegt der falsche, laut Staatsanwaltschaft sogar „gefälschte“ Einsatzbericht. Durch ihn wäre dem (zumindest in diesem Punkt) unschuldigen Gästefans beinahe ein folgenschweres Verfahren wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung gegen einen Polizisten an den Hals gehängt worden. Nun muss sich der Polizist wegen der Verfolgung Unschuldiger selbst verantworten.

Eine junge Kollegin, die in ihrem Bericht als Einzige fast wortgleich die offenkundig falsche Szene beschrieben hatte, ist schon mit einem Strafbefehl rechtskräftig verurteilt. Beide Beamte berufen sich auf die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit in der Extremlage, die das Scharmützel mit den Fans damals gewesen war. „Du stehst so unter Strom“, sagte der Angeklagte. Er habe zwei Szenen im Geiste miteinander vermischt. Erklären könne er sich das nicht. Der Bericht sei aber definitiv nicht gefälscht, um den Schlagstockeinsatz zu rechtfertigen.

Die eingeschüchterte 26-jährige Kollegin macht seitdem keinen Außendienst mehr. Der Familienvater aber kämpft weiter. Das Urteil im Prozess soll am 11. Mai gesprochen werden.