Ingolstadt
"Die Angst vor der Spritze ist global"

Sebastian Koller behandelt Patienten in nepalesischen Dörfern – Der Ingolstädter Zahnarzt über seinen Arbeitsurlaub

27.03.2014 | Stand 02.12.2020, 22:53 Uhr

Im Einsatz für Zahnärzte ohne Grenzen (von links): Violetta Kolmann, Sebastian Koller, Linda Ilg, der nepalesische Zahnarzt Hari Shrestha und der Projektleiter Peter Reithmayer.

Ingolstadt (DK) Ein ausgeräumtes Klassenzimmer in der kleinen Schule, Holzstühle für wartende Patienten an der kahlen Wand, vor den Fenstern drei „Behandlungsstühle“ – ebenfalls aus Holz: Moderner Weststandard beim Zahnarzt sieht anders aus. Dennoch, gut 6500 Kilometer Luftlinie von Ingolstadt entfernt, haben die Patienten im nepalesischen Bergdorf Maidi das Team der Zahnärzte ohne Grenzen aus Deutschland herbeigesehnt.

Geduldig plaudern sie miteinander, nehmen mehr als drei Stunden Wartezeit für die kostenlose Behandlung in Kauf. „Vor vier Jahren war der letzte Zahnarzt im Dorf“, erklärt Sebastian Koller den Andrang der Patienten. Gemeinsam mit den Münchner Kollegen Peter Reithmayer und Linda Ilg haben der Ingolstädter Zahnarzt und seine Assistentin Violetta Kolmann Anfang März den Zeitsprung in die medizinische Vergangenheit und die Reise in die fremde Welt am Fuß des Himalajas gewagt.

Fünf Monate zuvor hatte Violetta Kolmann den Aufruf der Stiftung Zahnärzte ohne Grenzen im Internet entdeckt. „Nach Absprache mit meiner Familie und meinem Praxiskollegen Christian Kross war der Hilfseinsatz in Nepal beschlossene Sache“, sagt Koller – 14 Tage Urlaub im Dienst der guten Sache.

Die längere Vorbereitungszeit war notwendig, auch wegen der Vorgaben in Nepal. Die Behörden fordern beglaubigte und übersetzte Approbationen und wollen den Nachweis einer dreijährigen Berufspraxis sehen. Was auch für die Jüngste im Team, die 23-jährige Violetta, kein Problem war. „Außerdem trafen wir uns zum Informationsaustausch mit erfahrenen Mitgliedern der Nepalhilfe Beilngries, die in den Dörfern dort sehr erfolgreich Schulen baut“, sagt Koller. Der 34-Jährige wollte sich ebenfalls engagieren. Und er ließ sich seinen abenteuerlichen Arbeitseinsatz in Sachen humanitäre Hilfe auch noch etwas kosten. „Die Teilnehmer bezahlen Flug und Unterkunft selbst.“ Behandlungsmaterial und -gerät stellt die Stiftung – in der Regel über Spenden.

19 Stunden dauerte der Flug nach Kathmandu, der Hauptstadt Nepals. Der erste Eindruck: „Laut, staubig, Smog“, sagt Koller. Schuld an der enormen Luftverschmutzung sei unter anderem der ausufernde Straßenverkehr in der wegen der Landflucht ständig wachsenden Millionenstadt. „Wenn man sich da am Abend schnäuzt, ist das Taschentuch schwarz“, sagt Koller.

Durchatmen konnte das Team dann in 1800 Metern Höhe – in den Einsatzorten Salyantar und Maidi nördlich der Hauptstadt – nach einer Ochsentour im Jeep über eine Rüttelpiste, die in dem südasiatischen Land Straße genannt wird. „Acht Stunden Fahrt für 125 Kilometer, das sagt alles“, erzählt Koller. Die Anreise zum dritten Einsatzort in die 95 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Trishuli dauerte vier Stunden. Anders als in den Dörfern konnte das Team dort in einer Praxis der Zahnärzte ohne Grenzen behandeln – mit richtigem Zahnarztstuhl, OP-Licht, Absaug- und Sterilisationsgerät.

Allen Strapazen zum Trotz sieht Koller seinen humanitären Einsatz ausschließlich positiv. „Die Menschen sind offen und freundlich. Und sie schätzen unsere kostenlose Hilfe sehr“, sagt der Zahnarzt. Nicht zuletzt, weil die Bevölkerung arm ist. Ein Arztbesuch in der Stadt ist für die Bauern aus den Bergdörfern fast ein Luxus. „Der Patient muss die Kosten für die Fahrt selbst zahlen“, erzählt Koller. „Umgerechnet etwa 65 Euro.“ Dafür müsse der Bauer einen Büffel oder ein Stück Acker verkaufen. Immerhin gebe es auf dem Land allgemeinmedizinische Anlaufstellen der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Angesichts dieser lückenhaften Versorgung fehlt es den Helfern aus Deutschland nicht an Patienten – vom Kleinkind bis zum Greis. „Unser Team hat in sieben Tagen 792 Patienten behandelt.“ Meist seien es kleinere Eingriffe gewesen, aber „wir mussten auch 580 Zähne ziehen“. Wobei das Klischee der Furcht vor dem Zahnarzt die Völker zu verbinden scheint und deutsche und nepalesische Patienten durchaus ähnlich reagieren. „Die Angst vor der Spritze ist global“, schmunzelt Koller.

Weniger global, eher landestypisch scheint hingegen das Misstrauen des Dorfpolizisten in Maidi zu sein. Sein Weisheitszahn musste operiert werden. Weil aber aus seiner Sicht der Zahnarzt ein Mann zu sein hat, kam Kollers Münchner Kollegin Ilg nicht zum Zug: Der Polizist bestand auf eine Behandlung durch die Männer des Teams.