Ingolstadt
"Deutschland ist nicht mehr durchgeimpft"

Die Polio-Selbsthilfegruppe Ingolstadt feiert am Samstag Zehnjähriges – und mahnt zur Vorsorge

22.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:05 Uhr

Einsatz für Leidensgenossen: Anna Rausch und Franz Koller von der Polio-Selbsthilfegruppe Ingolstadt. - Foto: privat

Ingolstadt (DK) Es fängt an wie eine Grippe, mit Kopf- und Gliederschmerzen, Muskelzucken, Kälteempfindlichkeit und einem Gefühl von Schlappheit. Aber spätestens, wenn die Arme oder Beine taub werden, merkt man, dass es sich um keine Grippe handelt.

Anna Rausch war etwas mehr als drei Jahre alt, als die Symptome bei ihr auftraten. „Der Arzt hat das sofort erkannt“, erzählt die Vohburgerin. „Kinderlähmung.“ Sie kam nach München, ein halbes Jahr Quarantäne, die Lähmung ihres Körpers ging zurück, aber sie ist bis heute auf den Rollstuhl angewiesen. Heute würden viele Ärzte wohl zunächst auf eine andere Ursache tippen, glaubt Anna Rausch. „Ärzte und Therapeuten, die wissen doch heute gar nicht mehr, was Polio ist“, sagt sie. Um sie aufzuklären, aber vor allem, um die Betroffenen zu informieren und ihnen zu helfen, hat Anna Rausch 2004 die Polio-Selbsthilfegruppe Ingolstadt mitgegründet. Am kommenden Samstag feiert die Gruppe, die inzwischen aus rund 50 Mitgliedern besteht, ihr zehnjähriges Bestehen mit rund 80 geladenen Gästen – und zwar nicht nur mit Andacht, Essen und Musik, sondern auch mit zwei Vorträgen. Der Gruppe geht es schließlich auch um Information.

„Es gibt sicher viele in unserem Alter, die nicht wissen, warum sie plötzlich keine Luft mehr bekommen oder kälteempfindlich sind“, sagt Franz Koller, der stellvertretende Vorsitzende der Gruppe. Und dann kann ein Arztbesuch schnell heikel werden, weil weder der Mediziner noch der Patient etwas von der Krankheit ahnen. „Wenn wir eine falsche Narkose bekommen, dann kann es schnell sein, dass wir nicht mehr aufwachen“, sagt Koller, der selbst mit dreieinhalb Jahren erkrankte und bis heute Schwierigkeiten beim Fortbewegen hat. Auch bei der Einnahme von Medikamenten müssten die Betroffenen darauf achten, was der Arzt ihnen verschreibt. Selbst, wenn man sein Krankheitsbild kenne, stoße man nicht immer auf Verständnis. „Man muss wirklich darauf bestehen, dass man anders behandelt wird“, sagt Anna Rausch, die Vorsitzende der Selbsthilfegruppe.

Mit den fehlenden Kenntnissen gehe ein weiteres Problem einher, sagt Koller: „Deutschland ist nicht mehr durchgeimpft.“ Polio, im Volksmund Kinderlähmung genannt, könne sich so wunderbar ausbreiten, „wenn jetzt zum Beispiel syrische Flüchtlinge kommen, wo Polio an der Tagesordnung ist. Bis dann ein Arzt die Diagnose stellt, ist es zu spät.“ Und dann könne sich tatsächlich eine Epidemie ausbreiten. Koller: „So wie mit Ebola jetzt war es mit Polio vor 60 Jahren.“

Und mit der einmaligen Erkrankung und ihren direkten Begleiterscheinungen ist es auch nicht getan, wie man seit etwa 20 Jahren weiß. Das Post-Polio-Syndrom belastet viele der Betroffenen im Alter. Automatisch wurden bei ihnen die nicht beeinträchtigten Zellen und Muskeln viel stärker beansprucht, oftmals auch therapeutisch verordnet, was offenbar wiederum zu einem erhöhten Absterben der gesunden Zellen führt. „Deswegen ist es wichtig, dass die Therapeuten Bescheid wissen“, sagt Anna Rausch.

Und dafür gebe es die Selbsthilfegruppe, die Adressen von Kliniken und Rehazentren biete, und die die Betroffenen auch sonst unterstützen könne. Alle zwei Monate trifft sich die Poliogruppe im Pfarrheim St. Christoph, Jurastraße 10. Das nächste Treffen findet am Mittwoch, 3. Dezember, statt.