Ingolstadt
Der Opa aus dem Geschichtsbuch

01.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:44 Uhr

Sprung in die Freiheit: Das weltbekannte Foto von Conrad Schumann ist in Berlin an der Bernauer Straße am Originalschauplatz auf einer Hausmauer verewigt. Sein Sohn Erwin und dessen Kinder Lukas und Michael (rechts) besuchten diesen bedeutenden Ort der deutschen Geschichte erstmals gemeinsam. Die Familie lebt bei Ingolstadt. - Foto: Daniel Biskup

Ingolstadt (DK) Den Sprung von Conrad Schumann über Stacheldraht kennt fast jeder. Dass der berühmte DDR-Flüchtling danach bei Ingolstadt lebte und bei Audi arbeitete, wissen nur wenige. Seine Familie schrieb ein großes Stück deutsch-deutscher Geschichte.

„Gänsehaut.“ Es brauchte nur ein Wort und einen einzigen Ort, um dieses Gefühl bei Erwin Schumann auszulösen und es zu umschreiben. Er hat es erlebt, als er aus der U-Bahn steigt und dann vor diesem Schwarz-Weiß-Foto an der Hauswand steht, das fast jeder kennt. „Wir wussten ja nicht, dass das so groß ist“, sagt der 52-Jährige, der die Gefühle mit seinen Söhnen Lukas und Michael teilt.

Hier mitten in Berlin in der Bernauer Straße hat sich ein Stück ihrer Familiengeschichte und ein denkwürdiger Teil deutscher Historie abgespielt. Hier verlief einst die Mauer, jetzt steht dort eine Gedenkstätte. Die Geschichte der Schumanns ist keine wie jede andere. Und doch steht sie eben im Kern beispielhaft für die vieler deutschen Familien, die zerrissen wurden: von Stacheldraht, Beton und Selbstschussanlagen. Zementiert in West und Ost. Wie sich die ganz persönliche Teilung der Schumanns, die ursprünglich aus Sachsen stammen, zutrug, wissen die Menschen weltweit aus dem Fernsehen oder dem Geschichtsbuch. Ihr Vater und Opa Conrad Schumann war vielleicht der berühmteste „Republikflüchtling“ überhaupt.

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Sein Sprung am 15. August 1961 ist ein Symbol: Ein junger Grenzpolizist in Uniform flüchtet aus dem DDR-System, das seit zwei Tagen dabei war, West-Berlin abzuschotten und dabei die eigenen Leute einzusperren. Die Flucht ging um die Welt – und sie blieb über Jahrzehnte Thema.

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Dass sein Vater, damals gerade erst 19 Jahre alt, vor allem für andere Menschen etwas ganz Besonderes war, das sollte Erwin Schumann schon als Bub mitbekommen. In den 70ern und 80ern eilten Presseteams „aus Frankreich, Großbritannien, von überall“ zum Haus der Familie nach Oberemmendorf über dem Altmühltal, um über den Mauerspringer zu berichten, der dort seit 1974 lebte. „Irgendwann ist das natürlich weniger geworden und hat sich auf die Jahrestage begrenzt.“

Zu Hause oder im Dorf war die Flucht des Vaters dagegen nie das große Thema. Conrad Schumann ging sehr zurückhaltend damit um. „Er hat nur das Notwendigste erzählt, eher ein Wort weniger als zu viel“, berichtet der Sohn. Auch in der Arbeit wusste es kaum jemand. 1970 war der berühmte Mauerspringer, der im Osten als einfacher Schäfer in einer LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) gearbeitet hatte, bei Audi in Ingolstadt untergekommen, nachdem es ihn zufällig nach Bayern verschlagen hatte. Er bearbeitete Radnaben für den Audi 80 und Audi 100. Auch Sohn Erwin und dessen Söhne Michael und Lukas sind beim Autobauer oder haben dort gelernt.

Trotz des vertrauten Umfeldes und der Abgeschiedenheit des Wohnortes auf dem Land: Die Angst ließ den Vater nach der Flucht nie los. Spätestens aus den Stasi-Unterlagen erfährt der Sohn nach dem Ende der DDR, dass das wohl völlig zu Recht so war. Fast handbreit ist die Akte, die über den Vater angelegt wurde, der darin nur „Der Schumann“ genannt wird. Mit vielen Zeitungsberichten aus dem Westen und den Haftbefehlen. Eine lückenlose Dokumentation, die sich fast bis zur Wende zieht. Auch über Erwin Schumann gibt es eine Akte bei der Staatssicherheit. Den haben sie sich beim Berlin-Besuch angesehen – und auch nach Hause bestellt. Dann sehen sie die Version mit ungeschwärzten Namen. „Lieferzeit drei bis vier Jahre“, sagt Erwin Schumann.

Der 52-Jährige hat nie aufgehört, sich für die Umstände zu interessieren. So begeht die Familie auch die Jahrestage von Mauerbau, Mauerfall und Wiedervereinigung, wie jetzt wieder dieses 25-Jahr-Jubiläum der Deutschen Einheit. Sie verfolgt die Dokumentationen im Fernsehen oder bei Ausstellungen. „Um vielleicht noch irgendein Detail von damals zu erfahren, das wir noch nicht wussten.“

Auch selbst gingen sie immer wieder auf Spurensuche in der Familiengeschichte. Wie bei einigen Besuchen in Berlin. Gerade bei den Jubiläen bekommen sie dabei vor Augen geführt, welche Symbolkraft dieses Bild des Sprungs noch heute hat. „In den Berliner City-Arkaden hing das Foto von Vater letztes Jahr an jeder Säule, auch riesig groß“, erzählt Erwin Schumann gerührt. Schon vor der Wende fuhr er selbst „rüber“, wie man es halt so bei der DDR sagte. Schaute sich auch in Ost-Berlin „die andere Seite an“, von der aus sein Vater gesprungen war und damals spontan die eigenen Eltern sowie Bruder und Schwester zurückgelassen hatte. Den Kontakt zur getrennten Familie hielt Conrad Schumann über Briefe und mit Fresspaketen. Sein Sohn und Ehefrau Jutta besuchten die Verwandtschaft in Sachsen erstmals 1988, scheinbar kurz vor der Wende, doch noch mitten im gefestigten System. Noch heute schaudert Erwin Schumann beim Gedanken daran. Er sei immer mit einem mulmigen Gefühl rüber und war mehr als froh gewesen, wenn er hinter Rudolphstein wieder bayerischen Boden berührte. „Einmal haben sie an der Grenze das ganze Auto komplett durchsucht.“ Auch sonst lief die Überwachung durch den DDR-Staatsapparat natürlich wieder lückenlos, wenn die Nachfahren des „Republikflüchtlings“, den selbst dort die Todesstrafe erwartet hätte, anreisten.

Am 9. November 1989 brach dann der ganze Unrechtsstaat zusammen, und am 3. Oktober 1990 kam die Wiedervereinigung. Die Schumanns saßen wie Millionen andere staunend und gerührt vor den Fernsehern. Als die Mauer, über deren erste Stücke der Vater geflüchtet war, tatsächlich fiel, „herrschte natürlich erst Unglaube und Unsicherheit“, erzählt Erwin Schumann. Sollte es wirklich wahr sein? Knapp 25 Jahre später steht er erstmals gemeinsam mit seinen Söhnen an der historischen Stelle in Berlin, wo der Vater und Opa ins Geschichtsbuch gesprungen war, und erlebt „Gänsehaut“. Conrad Schumann konnte nicht mehr dabei sein. Er hatte sich 1998 das Leben genommen.