Ingolstadt
"Das G 8 konnte nicht funktionieren"

Rainer Rupp warnte früh vor einem Konstruktionsfehler im reformierten Gymnasium – vergebens

06.07.2012 | Stand 03.12.2020, 1:18 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Er hat sie natürlich alle gut aufbewahrt, die Briefe von Stoiber, Huber, Zehetmair und Hohlmeier, in denen ihm die CSU-Politiker versichern, dass das Gymnasium auf keinen Fall verkürzt werde – der Qualität zuliebe. Doch sie dachten später nicht mehr dran; das G8 kam schlagartig. Umgekehrt hat Rainer Rupp, von 1987 bis 2001 Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbands, in zahllosen Briefen und Gesprächen auf einen schweren Konstruktionsfehler im achtstufigen Gymnasium hingewiesen. Vergebens. Im Gespräch mit Christian Silvester erzählt Rupp (73), warum die Probleme genau so eingetreten sind, wie er es prophezeit hat, und wieso damals niemand auf ihn hören wollte.

Die Bayerische Staatsregierung scheint nervös und hat eine Reform des G8 angekündigt. Was, glauben Sie, heckt das Kultusministerium gerade aus?

Rainer Rupp: Da Ministerien ja ein gewisses Beharrungsvermögen haben, vermute ich, dass man sich irgendwelche Wege ausdenkt, wie man das G8 so frisieren kann, dass es in der Öffentlichkeit besser ankommt.

 

. . . um sich damit in die Sommerferien zu retten?

Rupp: Das weiß ich nicht, aber es wäre ein Irrtum zu glauben, man habe dann das Thema G8 nach den Sommerferien nicht mehr. Man wird es vor allem 2013 haben, wenn es in den Wahlkampf geht, denn es ist inzwischen ein Wahlkampfthema. Das G8 hat nun mal einen Konstruktionsfehler. Ich habe diese Situation seit acht Jahren erwartet, weil das G8 einfach nicht funktionieren konnte!

 

Die Regierung hat wohl nicht mit solchen Problemen und Protesten gerechnet. Wie erklären Sie diese Fehleinschätzung?

Rupp: Die Staatsregierung ist ein Opfer der eigenen Prophezeiungen geworden. Das Ministerium hat das G8 damals ja nicht aus Überzeugung eingeführt. Vielmehr hat Stoiber 2003 die Wahl furios gewonnen. Und dann kam man wohl zu dem Ergebnis: „Jetzt machen wir das, was wir schon lange machen wollten, aber uns nicht getraut haben.“ Mit der Zweidrittelmehrheit hat man keine Angst mehr gehabt – und das Gymnasium schlagartig verkürzt. Darüber war das Ministerium gar nicht erfreut, das weiß ich noch genau. Aber der Druck der Politik war da. Eine Politik, die der Wirtschaft gefolgt ist, die gesagt hat: „Die brauchen wir alle jünger!“ Und die Hochschulen haben auch mitgetönt: „Wir wollen uns die Studenten sowieso lieber selber raussuchen. In Bewerbungsgesprächen finden wir schon die interessanten Typen.“ So haben sich Wirtschaft und Hochschulen also zusammengetan, um politischen Druck zu erzeugen. Und als die Mehrheit da war, hat man es ganz schnell gemacht – nach der Devise: Morde muss man sofort begehen.

 

Und jetzt klagen immer mehr Unternehmer, dass ihnen viele Berufsanfänger zu jung sind.

Rupp: Ich frage mich, was sich die Leute damals eigentlich gedacht haben, was passiert! Denn es ist direkt ein Witz, dass die zuerst sagen: „Die brauchen wir jünger!“ Und dann sind sie jünger – und jetzt sind sie zu jung. Ein Professor, den ich gut kenne, war mal bei uns am Scheiner-Gymnasium. Ich habe ihn in die elfte Klasse geführt, wo er mit Schülern gesprochen hat. Nachher sagt er leise zu mir: „Die sind ja alle noch so kindisch.“ Da hab ich geantwortet: „So bekommt ihr sie in Zukunft!“

 

Was ist bei der Gymnasialreform 2004 schief gelaufen?

Rupp: Das Schlimme ist, dass vorher noch versprochen wurde, es bleibt beim G9. Das hat mir in einem Privatgespräch der Ministerpräsident Stoiber versprochen, ohne dass ich ihn danach gefragt hatte. Er kam auf mich zu und erzählte mir, dass er den anderen Ministerpräsidenten gesagt habe, es bleibe bei 13 Schuljahren, aus Qualitätsgründen. Ich erinnere mich sehr gut an dieses Gespräch. Es fand 2002 statt, in der Phase, als Stoiber Bundeskanzler werden wollte. Und 2003 in der Zeit der bayerischen Landtagswahl wurde gerade der neue Lehrplan für das G9 fertig, der zwei Jahre lang vermutlich für eine Menge Geld entwickelt worden war. Ich sehe noch den großen Karton, der bei uns in der Schule eingetroffen ist, mit all den blauen Ordnern drin. Die neuen Schulbücher für die unteren Klassen gab’s auch schon. Und nur wenige Wochen später hieß es aus München: Kommando zurück! Jetzt kommt das G8.

 

Und dann hat man die Oberstufe gleich noch mitreformiert.

Rupp: Die Oberstufenreform wäre so und so gekommen, weil sie seit Ende der Neunziger beschlossen war. Das ist genau der Punkt! Da sind zwei Bahnen parallel gefahren. Dabei war die Oberstufenreform zunächst von der Verkürzungsdebatte völlig unabhängig zu sehen, denn für die Oberstufe, die man dann mit dem G8 eingeführt hat, brauchte man eine solide Mittelstufe, weil das Abitur vor allem wegen der Pflichtprüfungsfächer anspruchsvoller wurde. Die Reform hatte viele Gründe. So haben die Hochschulen darüber geklagt, dass die Abiturienten zu unterschiedlich sind. Die einen konnten schon zu viel, zum Beispiel, wenn sie Jura studierten und vorher im Leistungskurs Wirtschaft und Recht waren. „Und die anderen haben überhaupt keine Ahnung!“, hieß es dann. Also Vorurteile zuhauf. Man weiß freilich, dass die Universitäten schon immer über die Schüler geklagt haben, das war bereits bei Sokrates so.

 

Und jetzt bieten die Hochschulen Vorkurse für Studenten, die in Mathe zu schwach sind.

Rupp: Ich könnte all meine Erklärungen und Briefe raussuchen, dramatische Briefe zum Teil, die ich an hochrangige Politiker geschrieben habe. Dazu Presseerklärungen, in denen ich genau das vorhergesagt habe: Die Universitäten werden Vorkurse einrichten! Das war klar, und heute tun sie’s. Das soll jetzt also billiger sein, wenn die Studenten an der Hochschule studienreif gemacht werden? Das ist ja grotesk! Es fehlt auch eine gymnasiale Idee. Das allgemeine Bildungsangebot leidet!

 

Wie konnte es dazu kommen?

Rupp: In den neunziger Jahren drohte eine Hochschuleingangsprüfung mit der Folge der Entwertung des Abiturs. Das hat mich als Verbandsvorsitzenden natürlich alarmiert. Wir haben darauf ein Gegenmodell entwickelt, das auch auf einer Umfrage fußte, an der 20 000 Studenten teilgenommen haben. Dabei kam raus, dass für sie – abgesehen von ihren Studienfächern – die wichtigsten Fächer Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache sind.

 

Also genau die heutigen Abiturpflichtfächer im G8.

Rupp: Ja. Um ein vergleichbares Abitur zu bekommen, wie es die Hochschulen forderten, musste man diese Fächer stärken. Zudem wollte man mehr Breite in die Oberstufe bringen. Das war der Hintergrund. Aber dann kam das Unglück, dass diese gute, sinnvolle Oberstufenreform 2003 plötzlich an die Verkürzung der Gymnasialzeit gekoppelt wurde. Nur fehlt für diese anspruchsvolle Oberstufe jetzt der nötige Unterbau, weil der ja verkürzt worden ist. Das ist der Konstruktionsfehler! So hat das diese Dramatik angenommen. Ich verstehe die Klagen, wenn Kernfächer nur noch dreistündig sind. Das ist Wahnsinn! Es bleibt keine Zeit mehr zum Üben. Die können im Ministerium jetzt Schönheitsreparaturen beschließen, wie sie wollen: Der Konstruktionsfehler des G8 bleibt!

 

Was würden Sie dem Ministerium raten, um das Problem G8 in den Griff zu bekommen?

Rupp: Nicht mit irgendwelchen Krücken arbeiten! Was ich da alles an Vorschlägen gelesen habe, dieses Brückenjahr etwa. Das soll dem einen zur Vertiefung dienen, dem anderen zum Nachholen von Defiziten, dem Dritten für einen Auslandsaufenthalt. Doch ein Jahr, das so verschiedene Aufgaben erfüllen soll, muss sehr stark diversifiziert sein – das wird richtig teuer! Auf bairisch gesagt ist das ein Schmarrn. Nein, man kann nur in der Mittelstufe die Zeit zum Üben geben und dem Kind auch noch die Zeit, Kind zu sein. Das wird in der Diskussion völlig vergessen! Meine Kinder haben das nicht mehr durchlaufen müssen. Und ich hoffe sehr, dass das Gymnasium, das meine Enkel eines Tages besuchen, ein anderes sein wird.