Ingolstadt
Nachwuchs als Armutsrisiko

Entgegen dem Trend im Bund sinkt in Ingolstadt die Kinderarmut doch jeder elfte Minderjährige ist arm

26.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:15 Uhr
Günstige Kleidung aus zweiter Hand gibt es unter anderem im Caritas-Markt in Gaimersheim. Das Angebot wird hauptsächlich von den Empfängern von staatlicher Grundsicherung genutzt. - Foto: Hammer −Foto: Hammer

Ingolstadt (DK) Fast zwei Millionen Kinder leben hierzulande laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung in Familien, die auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind. Im Vergleich von 2011 zu 2015 stieg die Quote von 14,3 auf 14,7 Prozent. In Ingolstadt ist derzeit jedes elfte Kind betroffen.

Lea ist sieben Jahre alt, geht in die zweite Klasse und hat fast ihr ganzes Leben in Armut verbracht. Als Lea ein halbes Jahr alt war, trennte sich ihre Mutter Judith T. (29) von ihrem Mann und kümmert sich seitdem alleine um die Erziehung. Lea und Judith heißen eigentlich anders. Die Namen der Betroffenen sind aus Rücksicht auf ihre Privatsphäre geändert worden.

"Leicht ist es nicht, ein Kind mit Hartz IV aufzuziehen", sagt Judith, die mit Lea im Josefsviertel in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit 80 Quadratmetern wohnt. Der Vater bezahle zwar Unterhalt, aber es reiche trotzdem nur für das Nötigste. "Wenn Lea besondere Kleidung haben will, muss sie sparen", erklärt Judith. Laut der aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung stieg in Westdeutschland von 2011 bis 2015 die Quote bei den unter 18-Jährigen, die auf Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) angewiesen sind, von 12,4 auf 13,2 Prozent. In Ostdeutschland ging die Zahl im selben Zeitraum von 24 auf 21,6 Prozent zurück. Ingolstadt hat die geringste Quote unter den deutschen Großstädten.

Judith sagt, sie versuche, Lea nicht mit ihrer finanziellen Notlage zu belasten. Im Urlaub waren die beiden aber zuletzt vor vier Jahren in Italien. Seitdem erlaubt ihr Budget nur kleine Ausflüge. Überlegt habe Judith schon öfter, ob sie wieder anfangen soll zu arbeiten. Aber es falle ihr schwer, Lea lange alleine zu lassen. "Mutter sein und arbeiten ist schwer zu koordinieren", findet sie. Vor drei Jahren hatte die gelernte Arzthelferin das letzte Mal einen Job. Das war als Ausfahrerin.

Mit einem Anteil von 50,2 Prozent an allen Familien, die SGB-II-Leistungen - im Volksmund Hartz IV genannt - beziehen, haben Kinder in alleinerziehenden Familien ein besonders hohes Armutsrisiko. Die zweite Risikogruppe sind mit 36,4 Prozent Kinder, die in Familien mit drei und mehr Kindern aufwachsen. Entgegen dem bundesweiten Trend ist in Ingolstadt der SGB-II-Bezug von Familien mit drei und mehr Kindern im vergangenen Jahr jedoch um 2,6 Prozent zurückgegangen. Insgesamt sind 1904 Kinder auf Grundsicherung angewiesen. Im Vergleich zum Jahr 2014 konnte in Ingolstadt bis Ende 2015 die Zahl der Kinder, die in Familien mit SGB-II-Bezug aufwachsen, um vier Prozent gesenkt werden.

Angelika P. (39) lebt mit ihren drei Kindern im Piusviertel in einer Vier-Zimmer-Wohnung mit 83 Quadratmetern. Halbtags arbeitet sie in der Hausaufgabenbetreuung. "Ich habe genauso wenig Geld wie jemand, der gar nicht arbeitet", sagt die Aufstockerin. So wird umgangssprachlich jemand genannt, dessen Verdienst so gering ist, dass das Jobcenter für die Differenz zum Existenzminimum aufkommen muss. Ihre Kinder sind 18, zwölf und sechs Jahre alt. Eines ist schwerbehindert. "Deshalb kann ich nicht mehr arbeiten", so Angelika.

Laut den Autoren der Bertelsmann-Studie wirken sich andauernde Armutserfahrungen "besonders negativ auf die Teilhabe und die Entwicklung von Kindern aus". Im Bundesdurchschnitt seien 57,2 Prozent der armen Kinder von sieben bis unter 15 Jahren mehr als drei Jahre auf Grundsicherungsleistungen angewiesen. Das Risiko, dass die Kinder von SGB-II-Leistungsempfängern auch einmal Grundsicherung beziehen, ist hoch.

Von ihrem Mann erhält Angelika keine Unterstützung. "Im September habe ich für alle Kinder Kleidung gekauft und hatte dann kein Geld mehr für die Klassenkasse", berichtet sie. Wenn die Kinder fragen, warum sie die neuen Turnschuhe oder das Smartphone nicht haben können, sagt sie: "Ihr müsst warten, warten, warten." Mit dem Jobcenter hat sie schon schlechte Erfahrungen gemacht: "Einmal ist meine Tochter nicht zu einem Termin gekommen. Da haben sie uns gleich zehn Prozent vom Geld gekürzt", erzählt Angelika.

Der richtige Umgang mit dem Problem Kinderarmut steht für Sozialreferent Wolfgang Scheuer fest: "Die beste Strategie, um Kinderarmut zu reduzieren, ist es, Eltern wieder in Arbeit zu bringen." Um alleinerziehende Eltern besonders zu fördern, sei ein Gesetz in Arbeit, um die Beschränkung des Unterhaltsvorschusses bis zum zwölften Lebensjahr und für maximal 72 Monate aufzuheben. Es sei angedacht, den Unterhaltsvorschuss, den das Jugendamt übernehme, wenn der Vater keinen Unterhalt für das Kind zahlt, bis zum 18. Lebensjahr des Kindes zu ermöglichen. Um zu verhindern, dass Mütter mit den Kindern nach einer Trennung aus der Wohnung ausziehen müssen, gebe es die Regelung, dass das Elternteil bei dem sich die Kinder aufhalten, bleiben dürfe. Die Startchancen für ein Kind aus einem SGB-II-Haushalt seien jedoch nicht ideal, gibt Scheuer zu.