Ingolstadt
Nachwehen des Bürgerkriegs

Anklage gegen Bosnier lautet auf Mordversuch: Messerattacke auf Serben aus plötzlichen Rachegelüsten?

23.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:36 Uhr

Im Abschiebelager an der Marie-Curie-Straße sind auch Menschen aus dem früheren Jugoslawien untergebracht, deren Familien sich während der Bürgerkriege auf dem Balkan in den 90er-Jahren feindselig gegenübergestanden haben. Ressentiments aus jener Zeit haben im vergangenen Juli womöglich zu einer Bluttat beigetragen. ‹ŒArch - foto: Hammer

Ingolstadt (DK) Der Krieg in Bosnien liegt gut 20 Jahre zurück - doch die Wunden, die er geschlagen hat, sind längst nicht alle verheilt. Das zeigt ein neuer Prozess vor dem Schwurgericht: Ein Bosnier hat im vergangenen Juli beim Abschiebelager an der Marie-Curie-Straße auf einen Serben eingestochen - möglicherweise aus Rache.

Was da seit gestern vor der 1. Strafkammer des Landgerichts verhandelt wird, ist in den Augen der Staatsanwaltschaft ein Mordversuch gewesen. Ein 51-jähriger Mann, der im vergangenen Juli in der Außenstelle des Abschiebelagers für Asylbewerber aus den Balkanländern an der Marie-Curie-Straße untergebracht war, soll einem 44-jährigen Mitbewohner, den er erst am Tattag kennengelernt hatte, nach einem gemeinsamen Bier unvermittelt ein Messer mit zehn Zentimeter langer Klinge in den Bauch gerammt haben.

Das Opfer erlitt lebensgefährliche Verletzungen an Leber und Darm, konnte sich unter hohem Blutverlust noch selber zur Unterkunft zurückschleppen, dann nur durch eine Notoperation gerettet werden.

Wieso sticht jemand - offenbar ohne vorherigen großen Streit oder Androhung und auf den ersten Blick auch ohne ein klar ersichtliches Motiv - einen anderen Menschen nieder? Bei der Klärung dieser Frage werden die Richter wohl versuchen müssen, die Biografien von mutmaßlichem Täter und Opfer näher zu beleuchten. Schon am gestrigen ersten Prozesstag - bis Mitte März sind vier weitere angesetzt - deutete sich an, dass sowohl der Angeklagte als auch das Opfer während der Bürgerkriege im früheren Jugoslawien in den 90er-Jahren nachhaltig geprägt, wahrscheinlich auch schwer traumatisiert worden sein dürften.

Der Angeklagte ist Moslem. Sein Verteidiger Jörg Gragert ließ gestern am Rande der Verhandlung durchblicken, dass die Familie seines Mandanten in den Kriegsjahren auf dem Balkan schlimme Erlebnisse gehabt haben soll. Näheres wird womöglich im Laufe des Verfahrens noch durch den psychiatrischen Gutachter berichtet werden, der den Beschuldigten untersucht und dabei wohl auch zu dessen Vorgeschichte befragt hat.

Ein damaliger Sicherheitsmann des Abschiebelagers sagte gestern als Zeuge aus, dass die Familie des 51-Jährigen - Ehefrau und ein Sohn sollen inzwischen in ihre Heimat abgeschoben worden sein - als einzige den Gebetsraum für Muslime im Camp genutzt haben soll. Mitbewohner hätten nach dem Vorfall vermutet, das Motiv für die Tat könne im religiösen Bereich gelegen haben. Bei seiner Festnahme habe der Bosnier damals augenscheinlich noch ein Gebet gesprochen. Später, so jedenfalls wurde es in Polizeiprotokollen nach den ersten Verhören vermerkt, soll der Mann angegeben haben, sein serbischer Mitbewohner habe ihn mit Aussagen zum Bosnienkrieg gereizt, und er habe dann "rotgesehen". Ein Atemalkoholtest bei der Festnahme hatte bei dem mutmaßlichen Täter rund 0,6 Promille ergeben.

Der niedergestochene Serbe hat nach seiner gestrigen Darstellung vor Gericht bereits vor der Messerattacke vom 17. Juli psychische Probleme aufgrund traumatischer Kriegserlebnisse gehabt. Er habe drei Kampfeinsätze im Kosovo gehabt, davor in Bosnien sei er aber lediglich mit technischen Aufgaben betraut und auch nur wenige Tage im Einsatz gewesen. Es ist aber unverkennbar, dass Angeklagter und Opfer seinerzeit verfeindeten Volksgruppen angehören.

An jenem verhängnisvollen Julitag hatten die beiden Männer, beide wohl erst kurz im Camp, sich angeblich beim Rauchen auf dem Hof des Abschiebelagers kennengelernt und sich am späteren Vormittag dann gemeinsam auf den Weg zu einer Tankstelle gemacht, um Bier und Zigaretten zu kaufen. Zur Mittagszeit saß man in einem Wäldchen nahe der Autobahn beisammen. Dabei, so der 44-Jährige, habe man sich lediglich über die jeweiligen Familien unterhalten und die Bierdosen geleert.

Als man sich auf den Heimweg machte, soll der vorausgehende Bosnier dann nach wenigen Schritten haltgemacht, den nachfolgenden Serben mit der linken Hand gestoppt und dann sofort mit der rechten Hand zugestochen haben. "Ich hatte keine Ahnung, dass er mich stechen würde", sagte das Opfer im Zeugenstuhl - eine Aussage, die ihm der Verteidiger nicht abnehmen will. Der Bosnier, so der Zeuge weiter, habe sein Messer dann an einem Blatt abgewischt und sei gegangen, er selbst sei rund zwei Kilometer bis zum Lager zurückgelaufen und habe sich beim Aufsichtspersonal gemeldet, so der Serbe, der im Prozess auch als Nebenkläger auftritt.

Der Angeklagte ließ gestern über seinen Verteidiger eine kurze Erklärung abgeben, wonach er den Vorfall einräumt und bedauert. Er habe den anderen Mann aber nicht töten wollen. Weitere Angaben zum Geschehen will er laut Verteidiger erst einmal nicht mehr machen. Auch eine Entschuldigung beim Opfer blieb aus. Der Prozess soll am Montag, 6. März, fortgesetzt werden.