Ingolstadt
Aktion "verkehrsfreie Altstadt"

Vor genau einem halben Jahrhundert fuhren in der Ludwigstraße erstmals keine Autos mehr

02.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:58 Uhr

Die Ansichtskarte aus den 1960er-Jahren zeigt die Ludwigstraße mit dem Kaufhaus EMA und dem abgerissenen alten Landratsamt vor Einführung der Fußgängerzone. - Foto: DK-Archiv

Ingolstadt (DK) Am 3. Dezember 1966 um 10.17 Uhr gab OB Otto Stinglwagner den Startschuss: Ohne Ankündigung (!) wurde das Zentrum erstmals für den Verkehr gesperrt. Die Autofahrer reagierten teils verstört, Fußgänger freuten sich über ihre neue Freiheit. Zehn Jahre später wurde die Fußgängerzone eröffnet.

Es war die Zeit, als Mariä Empfängnis (8. Dezember) noch Feiertag war und verkaufsoffene Samstage etwas Besonderes. Audi hieß noch Auto Union und Kurt Georg Kiesinger war am 1. Dezember 1966 zum Kanzler der ersten großen Koalition gewählt worden. Weihnachten stand vor der Tür und die Menschen strömten in Massen in die Innenstadt zum Einkaufen - Westpark, Manchinger Straße und FOC gab es noch nicht.

"Verkehrsstauungen in der Innenstadt sind keine Seltenheit", stand seinerzeit im DONAUKURIER. Auf der Suche nach den letzten freien Parkplätzen kam es bisweilen zu tumultartigen Szenen: "Mehr als einmal war in der Vergangenheit zu sehen, daß Kraftfahrer in den Geschäftsstraßen mit aller Macht auf die Bremsen treten mußten, um Passanten vor dem Krankenhaus zu bewahren. Für diejenigen Fußgänger, die Vorsicht walten ließen und auf den Gehsteigen blieben, war andererseits der Einkaufsbummel bei dem Stoßen und Schieben auf den Trottoirs kein Vergnügen."

Man kann es sich heute kaum mehr vorstellen, aber der Schliffelmarkt war die Kreuzung zweier Bundesstraßen. Franz Mayr ist genau dort aufgewachsen. "Der Verkehr in der Innenstadt, das war ganz normal", sagt der Inhaber des gleichnamigen Modehauses. Er kann sich noch gut an die erste Ingolstädter Ampel am Ertl-Eck erinnern. Zum Spielen konnte er nie auf die Straße, wo ja Durchgangsverkehr war. Stattdessen kickte der kleine Franz am elterlichen Dachgarten.

Doch am zweiten Adventswochenende des Jahres 1966 war auf einmal alles anders. Die Innenstadt gehörte erstmals dem "Fußvolk". Alle Funkwagen der Stadtpolizei waren seit den Morgenstunden unterwegs, um den Verkehr zu beobachten. Im Alten Rathaus, wo seinerzeit die Wache war, trafen in Abständen von fünf bis zehn Minuten die Meldungen der Streifen ein. Ab 9 Uhr bildeten sich in der Innenstadt die gewohnten Staus, bis OB Stinglwagner exakt um 10.17 Uhr die lange im Voraus geplante Aktion "verkehrsfreie Altstadt" anordnete.

Ein paar Minuten später wurden die Zufahrtsstraßen zum Stadtkern abgesperrt und die Ampeln per Hand geregelt. Trotz Erklärungen der Polizei versuchten etliche Autofahrer verzweifelt, doch noch eine Lücke ausfindig zu machen, um auf gewohnten Wegen in die Innenstadt zu gelangen. "Daß sie dabei oft an leeren Parkplätzen vorüberfuhren, störte sie nicht", so der DK nicht ohne Ironie. Am Rathausplatz (damals Parkplatz) herrschte offenbar völliges Chaos: "Aber keiner konnte sich darüber beschweren. Irgendwie mußte er ja die Sperren am Rand des Zentrums umgangen haben."

Auch die Fußgänger brauchten etwas länger, um das völlig neue Geschehen zu verarbeiten. "Erst nachmittags hatten die meisten begriffen, daß man diesmal auch auf der Fahrbahn gehen konnte und sich nicht mehr auf dem Gehsteig aneinander vorbeidrängen mußte", so der DK. Manche alten Ingolstädter kapierten erst an diesem Samstag, dass es vom alten Volksfestplatz (beim Hallenbad) bis in die Innenstadt nur wenige Minuten zu Fuß sind. Gegen 17 Uhr wurde die Aktion abgeblasen, die allgemein als geglückt betrachtet und an den folgenden Adventswochenenden wiederholt wurde.

Die Autofahrer zeigten sich dann tatsächlich lernfähig und steuerten die Parkplätze an der Peripherie an, die dem großen Bedarf sogar gewachsen waren. Nicht wenige Fußgänger gaben unumwunden zu, nur in die Stadt gegangen zu sein, "um einmal kreuz und quer und ungefährdet über Ludwig- und Theresienstraße sowie über den Schliffelmarkt gehen zu können", wie der DK schreibt. Einige Jahre später durften sie am autofreien Sonntag fast überall spazieren gehen.

Neu war am Ende des Jahres 1966 auch die Verstärkung der Ordnungskräfte. Obwohl die Stadtpolizei alle Kräfte im Einsatz hatte, reichte die Zahl der Beamten nicht aus, um die "blaue Zone" zu kontrollieren. Das waren die Straßen in der Innenstadt, wo man für zwei Stunden sein Fahrzeug parken konnte. Allerdings hielten sich viele Autofahrer nicht daran. Daher wurden vier "Hilfspolizisten" eingestellt, die in Zivil den ruhenden Verkehr kontrollierten. Die Verstöße gingen daraufhin deutlich zurück.