Ingolstadt
Auf Hausbesuch

Als stille Beobachterin und Zuhörerin mit dem Arzt Florian Kellner durch den Nordosten

14.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:38 Uhr

Blutdruckmessen mit einem professionellen Messgerät, das mit einem Stethoskop verbunden ist, ist komplizierter als gedacht: DK-Redakteurin Ruth Stückle versucht sich an einer Patientin - der echte Arzt Florian Kellner hat ein waches Auge drauf. Und natürlich vorher selbst gemessen. Bei seiner Hausbesuchs-Tour hat er im Arztkoffer alles für den Notfall dabei (Foto unten). - Fotos: Hauser

Ingolstadt (DK) Eines ist von vorneherein klar: Dieser "DK-Ferienjob" ist anders als andere. Blutdruckmessen mit einem analogen Messgerät ist schon die größte Herausforderung, die die Redakteurin an diesem Tag zu bewältigen hat. Arzt ist eben ein besonderer Beruf, keiner, in den man schnell mal für ein paar Stunden reinschnuppern kann. Die "Verstärkung", die Florian Kellner an diesem Tag an seiner Seite hat, ist in erster Linie stille Beobachterin. Und Zuhörerin. Letzteres, so wird schnell klar, ist dann doch wieder eine nicht unwesentliche Tätigkeit, die ein Hausarzt auf Hausbesuch ausüben muss. Denn er ist nicht nur Arzt, sondern gewissermaßen auch Seelendoktor. Einfühlungsvermögen ist fast so wichtig wie medizinisches Können.

Florian Kellner ist Arzt in Weiterbildung. Im Hausarztzentrum Ingolstadt in der Goethestraße macht der 31-Jährige derzeit seinen Facharzt für Allgemeinmedizin. Und dazu gehören auch Hausbesuche. Auch, wenn diese heutzutage in den Praxen leider immer seltener werden. In den Hausarztzentren Anton Böhms sind sie - zumindest bei langjährigen Patienten - noch die Regel. Unter finanziellen Aspekten sind Hausbesuche ein Draufzahlgeschäft. Im Schnitt 30 Euro bekommt der Arzt für einen Besuch. Und das nur, wenn der Patient einen Hausarztvertrag abgeschlossen hat, ansonsten ist es deutlich weniger. "Die Kassen verstehen nicht, wie viel sie durch Hausbesuche sparen könnten", sagt Kellner. "Wenn zehn davon nur einen einzigen Krankenhausaufenthalt unnötig machen, dann spart dies einige Tausend Euro.

Acht Hausbesuche stehen an diesem Vormittag auf dem Programm. Acht Menschen, die einen Arzt brauchen, manche mehr, manche weniger dringend. Alle acht freuen sich aber über den Besuch des Doktors. Später in der Praxis muss alles, was der Arzt diagnostiziert, getan oder verschrieben hat, dokumentiert werden. Warum er Arzt geworden ist? "Das ist nicht leicht zu beantworten", sagt Kellner nachdenklich. Er habe etwas mit Menschen machen wollen, sagt er nach einiger Zeit, interessiere sich generell für Zusammenhänge. Auch, dass sein Vater Tierarzt war und ein Onkel Gastroenterologe, habe vielleicht eine Rolle gespielt. Und dass er für Maschinenbau oder BWL wenig übrig habe. In der Allgemeinmedizin sieht er die größten Zukunftschancen. Schon allein wegen des Ärztemangels. "30 Prozent der Hausärzte in Bayern sind über 60."

An diesem Tag bekommt Kellner auf seiner Tour durchs Nordostviertel Gesellschaft von der DK-Redakteurin. Die ist erst mal fasziniert von der Vielfalt an Medikamenten, Ampullen und Equipment in Kellners Arztkoffer, der eher aussieht wie ein Werkzeugschrank. "95 Prozent davon brauchen Sie nie", sagt er. Aber wehe, eine Ampulle sei mal nicht erneuert. "Genau die wird beim nächsten Notfall benötigt." Erste Station um kurz nach 8 Uhr ist ein riesiger Plattenbau in der Hebbelstraße.

Die Patientin, um die es geht, kennt Kellner selbst noch nicht. Er besucht sie als Urlaubsvertretung für eine Kollegin. Das Klingeln verhallt ungehört. Der ambulante Pflegedienst, der sich morgens und abends um die bettlägerige und hoch demente Frau kümmert, ist schon weg. Florian Kellner greift zum Handy. Die Frau vom Pflegedienst, die von dem vereinbarten Hausbesuch des Mediziners nichts erfahren hatte, ist noch in der Nähe und kommt zurück. Kellner hat keine leichte Aufgabe. Demnächst steht die Entscheidung an, ob die Frau alleine in der Wohnung bleiben kann oder ins Heim muss. Die Tochter ist den ganzen Tag in der Arbeit, die schwer pflegebedürftige Seniorin, die sich alleine nicht mal umdrehen kann, stundenlang allein. Sie hatte sich deshalb wund gelegen. Der Dekubitus, so der medizinische Fachausdruck, wurde vom Pflegedienst gut versorgt. Die Wunde ist fast abgeheilt. Kellner löst das Pflaster ab, schaut sich die Wunde am Steiß an, reinigt sie und klebt vorsichtig ein neues Pflaster drauf. Er misst den Blutdruck, streichelt der Frau fürsorglich über den Arm, stellt ein paar Fragen. Sie blickt ihn an und lächelt. So wie sie es fast die ganze Zeit über getan hat.

"Die Leute sind extrem dankbar, wenn man kommt", sagt Kellner. Auch die 79-Jährige, die schwer lungenkrank ist und fast blind auf ihrem Sofa sitzt, den riesigen Flachbildfernseher unmittelbar vor den Augen, wartet schon sehnsüchtig auf den Arzt. Ihr von ihr getrennt lebender Mann, der sich noch um die Frau kümmert, lässt uns rein. "Man lebt", sagt die Frau auf die Frage des Mediziners, wie es ihr gehe. Obwohl sie kaum Luft bekommt, kann sie mit dem Rauchen nicht aufhören. Doch das Hauptproblem, das ihr zu schaffen macht, ist der Darm. Nur mit einer hohen Dosis Abführmittel kann sie aufs Klo gehen. Doch je mehr sie davon nimmt, desto träger wird ihr Darm. "Was meinen's wia i verzweifelt bin", sagt die Frau mit Tränen in den Augen. Sie war wegen des Problems schon mehrmals im Krankenhaus. Drei Jahre lang habe sie jedes Jahr eine Darmspiegelung bekommen. Die Verstopfung, sagt Kellner, käme vom Zucker. "Zucker lähmt den Darm." Er verschreibt ihr ein Pulver, ein Abführmittel, das nicht zu weiterer Darmträgheit führen soll. "Sie dürfen sich ruhig in der Praxis rühren, wenn ich kommen soll", sagt Kellner. "Auch dann, wenn Sie nur jemanden zum Reden brauchen."

Auch die nächste Patientin ist ein Vollpflegefall. Die Frau, die nächsten Monat 92 wird, hatte einen Schlaganfall und wird rund um die Uhr von ihrer Tochter betreut. "Sehr gut betreut", wie Florian Kellner feststellt. "Die Mama liegt schon vier Jahre", erklärt die Tochter, deren Mann vor drei Jahren an Krebs gestorben ist. Jetzt sieht sie es als ihre Lebensaufgabe, die Mutter zu pflegen.

Nur noch 50,2 Kilogramm wiegt der 79-Jährige, der an einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) leidet und nur noch mittels Sauerstoffgerät und starken opiathaltigen Medikamenten Luft bekommt. Doch das ist noch nicht alles. Der Mann hatte auch schon einen Herzinfarkt, überdies hat er ein Aneurysma im Bauch, das jederzeit platzen kann. Seine Prognose ist alles andere als gut. "Vor einem Jahr wog er noch 74,6", sagt die Frau an seiner Seite und zeigt die in einem Heft akribisch eingetragenen Werte. Doch die kalorienreichen Getränke, die sie ihm als Zusatznahrung gibt, schmecken ihm gar nicht. "Stellen Sie ihm einen Schweinebraten und ein Bier hin", rät der Arzt. "Erlaubt ist alles. Hauptsache kalorienreich."

Mit dem Auto geht's weiter in die Regensburger Straße. "Zu meiner Vorzeigepatientin", wie Kellner sagt. Die Frau wird bald 97. Sie lebt allein, mit Hilfe ihres Nachbarn, der ihr nicht nur einkauft, sondern auch die Tabletten herrichtet und sich um die Frau kümmert. Im Sommer ist sie gestürzt. Die Blutergüsse an den Beinen sind noch nicht ganz verheilt. Florian Kellner schaut sie sich an, tastet die Beine ab und misst den Blutdruck. Dann darf auch die Assistentin vom DK mal ran. Das analoge Blutdruckmessgerät, das mit einem Stethoskop verbunden ist, ist sehr viel komplizierter zu handhaben als dass, was wir für gemein als Blutdruckmessgerät zu Hause haben. Es braucht mehrere Versuche, bis "Lernschwester Ruth" die Herzschläge übers Stethoskop von anderen Geräuschen unterscheiden und deuten kann.

Geübt wird beim nächsten Patienten gleich noch mal. Der 87-Jährige kam vor einigen Wochen mit einem Blinddarmdurchbruch ins Krankenhaus. "Es war kurz vor knapp", erzählt Kellner. Seitdem steht der Mann auf der Hausbesuchsliste. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin in einem Wohnblock. Im Nebenzimmer steht ein mit Lametta und Kugeln geschmückter Christbaum.

Kein Christbaum, dafür jede Menge Teddybären erwarten uns bei der letzten Patientin an diesem Vormittag. Die Plüschtiere sitzen sorgsam drapiert auf dem Sofa und auf der Eckbank. "Ich bräuchte halt eine Frau, die manchmal vorbeikommt", sagt die 81-Jährige. Ihr Mann ist hochgradig dement und lebt in einem Heim. "Er kennt mich nicht, ich bin ,die Frau Nachbarin'", sagt sie traurig. Und ihre Freundin, mit der sie regelmäßig telefoniert hat, ist vor Kurzem gestorben. Die Tochter besuche sie, sooft sie kann, die Enkelin käme auch manchmal. Doch in letzter Zeit sei sie lieber beim Tanzen. Florian Kellner hört der alten Dame mit den dunklen Augenringen interessiert zu. Man merkt schnell: Die Frau leidet unter Einsamkeit. Der Arzt nimmt sich mehr Zeit als sonst, was an diesem Tag möglich ist, weil die Praxis zurzeit wegen Umbaus geschlossen ist. Kellner lässt die alte Dame erzählen, fragt hin und wieder nach, dann checkt er die Tabletten der Patientin. Sein Blick fällt auf ein paar kleine, dunkle Flecken am Arm. Er rät ihr dringend, diese "Sonnenschäden" vom Hautarzt ansehen zu lassen. "Das ist die Vorstufe von Hautkrebs."

Als sich Kellner und seine Helferin auf Zeit verabschieden, ist die Dame wieder mit ihren Teddys allein. Die Bären helfen ihr sicher ein klein wenig über die Einsamkeit hinweg. Menschliche Nähe ersetzen können sie nicht.