Ingolstadt
Ärztlicher Hausbesuch? Nicht immer

Viele Mediziner versorgen Patienten bei Bedarf zu Hause doch eine Ingolstädterin hat anderes erlebt

26.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:52 Uhr
Auf zum Hausbesuch: Für die Hausärztin Tatiana Wozniak vom Hausarztzentrum Ingolstadt gehören Hausbesuche zur Routine. Doch eine Frau aus Ingolstadt hat andere Erfahrungen gemacht – weil kein Arzt kommen wollte, musste ihr pflegebedürftiger Mann ins Heim. −Foto: Cornelia Hammer

Ingolstadt (DK) Gehört der Hausarzt, der auch Hausbesuche macht, zu einer aussterbenden Spezies? Eine 68-jährige Frau, die vor einiger Zeit mit ihrem Mann von Lenting nach Ingolstadt gezogen ist, hat ihre eigenen Erfahrungen mit dem Thema gemacht. Der Fall beschäftigt jetzt den Ärztlichen Kreisverband.

Sabine K. (Name geändert) ist stinksauer. Auf ihren Hausarzt in Kösching, bei dem sie und ihr Mann über 30 Jahre lang waren, aber auch auf alle weiteren Mediziner im Umkreis ihres jetzigen Wohnsitzes im Ingolstädter Südosten, von denen sie beziehungsweise ihr fast 90-jähriger Mann in Sachen Hausbesuch eine Abfuhr bekommen hatten. Ihr Mann, der auch an Demenz leidet, kam im Mai 2016 nach einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus, danach in Reha. Wieder zu Hause wollte sie ihren pflegebedürftigen Mann mithilfe eines ambulanten Dienstes selbst versorgen. Doch dann bekam ihr Mann eine offene Ferse. Den Diabetikerfuß, der nicht heilen wollte, wollte der Pflegedienst "nicht anrühren" und verwies auf den Hausarzt, schildert die Frau in einem Brief an den DK den Sachverhalt. Doch der langjährige Hausarzt aus dem 14 Kilometer entfernten Kösching, bei dem das Paar nach den Worten der Frau sogar einen Hausarztvertrag abgeschlossen hatte, hat den Hausbesuch in Ingolstadt abgelehnt. Auch vier weitere Ärzte in unmittelbarer Umgebung des Wohnorts hätten die Behandlung abgelehnt. Mittlerweile lebt der Mann in einem Pflegeheim in Denkendorf. "Ich habe keinen anderen Ausweg mehr gesehen", sagt Sabine K. "Und seltsamerweise fährt unser sogenannter ,Hausarzt' in dieses Seniorenheim nach Denkendorf." Die Wahl-Ingolstädterin versteht die Welt nicht mehr - und hat Beschwerde bei der Kassenärztlichen Vereinigung und mittlerweile auch beim Ärztlichen Kreisverband Ingolstadt-Eichstätt eingelegt.

Machen Ärzte heutzutage keine Hausbesuche mehr? Laut Birgit Grain, Pressesprecherin der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern, sind Haus- und Kinderärzte gesetzlich verpflichtet, Hausbesuche zu machen - allerdings nur, wenn es medizinisch notwendig ist. "Wenn das Aufsuchen des Arztes in dessen Praxisräumen wegen Krankheit nicht möglich oder nicht zumutbar ist." Ob ein Hausbesuch gemacht wird, hänge von den Beschwerden des Patienten ab. Bestehe kein "Behandlungsvertrag", ist der Betroffene also kein Patient der angefragten Praxis, dürfe eine Behandlung abgelehnt werden, wenn der Arzt aus Kapazitätsgründen keine Patienten mehr annimmt. 2015 gab es insgesamt 5,8 Millionen ärztliche Hausbesuche bei gesetzlich Krankenversicherten in Bayern.

Dass Hausbesuche bei Ärzten immer weniger gefragt sind, weiß auch Carsten Helbig. Dabei seien sie angesichts des demografischen Wandels wichtiger denn je, fasst der Vorsitzende des Ärztlichen Kreisverbandes Ingolstadt-Eichstätt das Problem zusammen. "Darauf muss eine Antwort gefunden werden." Wie auf viele andere drängende Fragen, was die Hausarztversorgung anbelangt.

Allgemeinarzt Anton Böhm hat in seinem Hausarztzentrum in mehreren Praxen 14 angestellte Mediziner. "Jeder macht regelmäßig zehn bis zwölf Hausbesuche." Entlastung böten auch drei sogenannte "Veras", Versorgungsassistentinnen, die, etwa für Verbandwechsel und andere nichtärztliche Tätigkeiten, ebenfalls Hausbesuche machen. Finanziell gesehen seien Hausbesuche für Ärzte "ein Draufzahlgeschäft". 22,33 Euro bekommt ein Arzt laut Böhm von der Kassenärztlichen Vereinigung für einen solchen Besuch. Mit Hausarztvertrag können je nach Kasse um die 30 Euro abgerechnet werden. Doch auch wenn es sich nicht rechnet: "Der Hausbesuch gehört halt zum Arztberuf dazu."

Auch Böhm und seinen Ärzten ist es lieber, wenn der Patient in die Praxis kommt. "Weil wir da bessere Untersuchungsmöglichkeiten haben." Was den Arzt und SPD-Stadtrat, der auch im Vorstand des Bayerischen Hausärzteverbandes ist, viel mehr umtreibt, ist der drohende Hausarztmangel auch in Ingolstadt. "Viele der Kollegen sind 60 plus." Was, wenn die alle in Ruhestand gehen?

Laut Kassenärztlicher Vereinigung Bayern liegt der Versorgungsgrad mit Hausärzten im Stadtgebiet Ingolstadt bei 109,7 Prozent. Die Stadt ist im Vergleich zum Gebiet Ingolstadt-Süd (dazu gehören Pörnbach, Karlskron, Mindelstetten, Oberdolling, Großmehring, Manching und Geisenfeld), wo der Versorgungsgrad nur bei 77,2 Prozent liegt und es deshalb finanzielle Anreize für Hausärzte gibt, überversorgt. Doch auch in Ingolstadt sind 34,5 Prozent der praktizierenden Hausärzte 60 Jahre und älter. Der Hausärztemangel ist also auch in der Boomtown nur noch eine Frage der Zeit.