Ingolstadt
Tief im geheimnisvollen Bayern

Wieso ließ Mary Shelley ihren "Frankenstein" in Ingolstadt spielen, obwohl sie die Stadt nicht kannte?

09.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:43 Uhr

Die Historikerin und der Kurfürst: Beatrix Schönewald mit "Frankenstein"-Prachtausgabe im Stadtmuseum neben einem Gemälde Karl Theodors. Er verbot 1784 den in Ingolstadt gegründeten Illuminaten-Orden, der Mary und Percy Shellley überaus fasziniert hatte. - Foto: Eberl

Ingolstadt (DK) Etwa ein Drittel des 1818 erschienenen "Frankenstein"-Romans spielt in Ingolstadt, doch dort gewesen ist die Autorin Mary Shelley nie. Beatrix Schönewald, die Leiterin des Stadtmuseums, erklärt den Zusammenhang zwischen Stadt und Buch im geistesgeschichtlichen Kontext der Zeit um 1800.

Eltern können bei der Einschätzung jugendgefährdender Schriften zu sehr unterschiedlichen Urteilen kommen. Sie habe als Schülerin Mary Shelleys Roman "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" heimlich unter der Bettdecke gelesen, weil die Eltern ihr die Lektüre des gruseligen Buches verboten hatten, erzählte letzthin Heike Marx-Teykal, die Leiterin der Ingolstädter Stadtbücherei, im DK-Gespräch. Auch Beatrix Schönewald, die Leiterin des Stadtmuseums, hat dank autoritären elterlichen Waltens Zugang zur abgründigen Welt der Mary Shelley gefunden: Ihr Vater, Rudibert Ettelt, Studiendirektor für Englisch und Geschichte am Donau-Gymnasium Kelheim, drückte seiner damals 16-jährigen Tochter den "Frankenstein" in die Hand und forderte sie auf: "Lies das!"

"Mein Vater hat die englische Literatur geliebt", erzählt die Historikerin. "Ich bin damit aufgewachsen, das gehörte einfach dazu. ,Frankenstein' stand in der Familie natürlich auf der Lektüreliste. Aber noch mehr hat mein Vater Percy Shelley geschätzt, Marys Mann." Einen Index gab es in dem Bildungsbürgerhause dennoch: ",Die Römerin' von Alberto Moravia durfte ich als Schülerin nicht lesen."

Beatrix Schönewald war mit dem Frankenstein-Stoff somit bestens vertraut, als sie 1991 nach Ingolstadt kam. Jene Stadt, in der Shelley den Medizinstudenten Victor Frankenstein - von Ehrgeiz getrieben, in Gewissenlosigkeit verloren - einen künstlichen Menschen erschafft lässt, der zum Monster degeneriert.

Der Roman hat Schönewald immer fasziniert, gerade weil er weit mehr bietet als eine reine Schauergeschichte: "Es geht um die Suche eines Rastlosen. Um die Auseinandersetzung mit dem Menschsein und dem Vergehen. Um das Überschreiten und Sprengen von Grenzen."

Und alles stammt aus der Feder einer Engländerin, die bei Erscheinen des Buches 21 Jahre alt war. Mary Shelley, stark geprägt von dem gebildeten, literarischen Umfeld, in dem sie aufgewachsen ist, legte mit ihrem "Frankenstein" auch "ein Gesellschaftsgemälde" vor, das die Frage aufwirft: "Was darf ich? Und was darf ich nicht"

Eine Schlüsselfrage in jener aufwühlenden Zeit um das Jahr 1800. Das revolutionäre Frankreich stürmt gegen das feudale Europa. Dessen Monarchen müssen einen existenziellen Kampf ausfechten, sie verteidigen die alte Ordnung verbissen - aufgeschreckt und bedroht von den neuen Ideen der Aufklärung: Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität.

Revolutionäre Entá †wicklungen auf dem Feld von Wissenschaft und Technik flankieren diese machtpolitische Epochenwende. Die Moderne steht vor der Tür. Kühne Köpfe wagen einen völlig neuen Blick auf die Welt. Die Entdeckung der Elektrizität fasziniert und beängstigt gleichermaßen. England - das Maß aller Dinge auf Erden - rast dampfmaschinengetrieben in das Zeitalter der Industrialisierung (wovon um 1800 in deutschen Landen noch keine Rede sein kann).

Kurz: Autoren auf Stoffsuche ist also einiges geboten. "Viele dieser Eindrücke und Motive nimmt Shelley in ihrem Roman auf", erklärt Schönewald. "Sie ordnet das Vielschichtige in ihrer Wahrnehmung." Das erkläre zum Teil auch den komplexen Aufbau des Werks mit seinen zahlreichen Briefen oder den abrupten Orts- und Perspektivenwechseln. "Mary Shelley zeichnet das schillernde Bild einer Epoche im Aufbruch!"

Aber wie passt Ingolstadt da hinein? Ein unbedeutendes bayerisches Provinzstädtchen, das anno 1800 auch noch seine gleichwohl der Bedeutungslosigkeit anheimgefallene Hohe Schule auf kurfürstliche Anordnung an Landshut verloren hat (ausgerechnet Landshut!). Beatrix Schönewald hat sich darüber viele Gedanken gemacht: "Bayern war für die zeitgenössischen Leser nicht wichtig." Es waren im Wesentlichen englische Leser, "weil der Roman erst im 20. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt worden ist". Der Ort sei symbolhaft - eine kleine Universitätsstadt tief im (aus britischer Sicht) mythisch entrückten Bayern -, aber für die Handlung nicht bestimmend. "Ingolstadt könnte irgendwo sein. Ich weiß nicht, ob die Stadt für das gelehrte Publikum in England einen Namen hatte."

Eher nicht. Aber für die Eheleute Shelley schon. Sehr sogar. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des "Frankenstein"-Romans offenbart einen starken Bezug zu Ingolstadt.

1816 reist die 19-jährige Mary Wollstonecraft mit ihrem späteren Gatten, dem Schriftsteller Percy Shelley, und ihrer Stiefschwester Claire durch Europa. Sie verbindet eine Dreiecksbeziehung; die dürfte ihnen gewiss auch unvergessliche Erlebnisse beschert haben. Heute würde man sagen: wie ein britisches Bildungsbürger-Roadmovie. "Sie saugen auf der Reise alle neuen Eindrücke dieser spannenden Zeit auf", sagt Schönewald. Die drei wollen nach Italien. Deutschland erleben sie indes nur vom Rhein aus. Vorbeifahrenderweise. Auf einem Schiff. Es gilt aber als sicher, dass Percy Shelley auf der Reise Bücher des berüchtigten Abbé Augustin Barruel im Gepäck hatte. Der Jesuit macht den 1776 von Adam Weishaupt in Ingolstadt gegründeten (und 1784 von Kurfürst Karl Theodor verbotenen) Orden der Illuminaten direkt für den Ausbruch der Französischen Revolution verantwortlich. "Mary und Percy Shelley haben sich viel mit den Illuminaten beschäftigt. So kamen sie auf Ingolstadt."

Schönewald hat recherchiert, dass Shelleys Barruel-Bände heute in der New York Public Library lagern. Eine Verlockung für eine Historikerin wie sie. "Vielleicht hat Shelley darin ja Randnotizen hinterlassen!"

Oder wenigstens den Namen "Ingolstadt" unterstrichen. Für die Bürger dieser Stadt hätte er damit Geschichte geschrieben.