Ganz schnell weg

17.08.2008 | Stand 03.12.2020, 5:40 Uhr

Langeweile und Stress prägen das Bild eines Bahnhofs. Die Bayreuther Studenten (links) vertreiben sich die Zeit bis zur Abfahrt, am Automaten löst eine Kundin noch schnell eine Fahrkarte.

Ingolstadt (DK) „24 Stunden Ingolstadt“ lautet der Titel der Sommerserie im DK. In zwei Dutzend Geschichten wird jeweils eine Stunde des Tages an einem anderen Ort in Ingolstadt erzählt, um den ganz normalen Alltag zu schildern. Heute: Zwischen 17 und 18 Uhr am Ingolstädter Hauptbahnhof.

An Gleis 1 knattert der Motor der Regionalbahn aus Augsburg. Reisende sind rar, die Bahnsteige fast leer. Kein Ferientrubel, nirgends. Soldaten trotten mit leichtem Marschgepäck ins lange Wochenende nach Mariä Himmelfahrt. Ihnen kommen die ersten Pendler entgegen. Man erkennt sie an den kleinen Taschen und den müden Augen. Sie wollen heim, nur heim. Ganz schnell weg. Wie die meisten an diesem schmucklosen Ort.

Der Bahnhof drei Kilometer vor dem Zentrum ist kein Anziehungspunkt wie in vielen anderen Städten. Wer hier ist, will nur weg. Egal, in welcher Richtung er unterwegs ist.

Vereinzelt mischen sich gut gelaunte Urlauber in die Schar der Pendler. Trolleys scheppern über den Beton. Danach kehrt so etwas wie Ruhe ein; zwischen 17.07 und 17.29 Uhr verlässt planmäßig kein einziger Zug den Bahnhof.

Richtung Treuchtlingen ballt sich was zusammen. Lucie und Johan Kaus gehören zu den Wartenden an Bahnsteig 5. Das Ehepaar aus den Niederlanden ist auf Radtour durch Deutschland. Am Tag zuvor sind sie in der Fränkischen Schweiz Richtung Altmühltal losgefahren. In Kipfenberg haben sie übernachtet ("Wunderschön!"), danach ging’s in das bahnhoflose Kelheim ("Schön!") und vom Nachbarort Saal mit dem Zug nach Ingolstadt. Jetzt wollen sie zurück ins Fränkische. Der Regionalexpress hat Verspätung. "15 bis 20 Minuten", quäkt es aus den Lautsprechern.

Bahnfahren finde sie "etwas stressig", erzählt Lucie Kaus in akzentfreiem Deutsch. Dann und wann seien sie beim Verladen der Räder mit drängelnden Urlaubern ins Gehege gekommen. "Aber mein Mann ist sehr gutmütig, und ich habe auch die Ruhe bewahrt." "Man muss sich nur gegenseitig helfen", sagt Johan Kaus, "dann geht alles am besten."

Die zwei strahlen. Die Radtour ist ihr großes Glück. Und es soll lange währen. "Wir kennen von Deutschland noch zu wenig." Bald immerhin erleben sie Treuchtlingen. Ein Ort zum Umsteigen.

"Das Stück Himmel" hat seit 16 Uhr zu. So nennt sich die Bahnhofsmission. Die Gaststätte mit Biergarten am Bahnsteig heißt Gleis 1. Zwei Herren trinken hier ihr Bier. Es sieht nicht so aus, als ginge für sie an diesem Tag noch ein Zug. Sie bleiben die einzigen Entspannten. Sonst verweilt am Bahnhof nur, wer wirklich muss.

Ein Stück weiter, in der neuen, behindertengerechten Touristeninformationen, durchweht den Hauptbahnhof ein Hauch von Moderne. In glänzenden Lettern steht dort "Ingolstadt an der Donau" – eine Reminiszenz an die Zeit, als es keine Postleitzahlen gab. Der Schuhreparaturladen mit 24-Stunden-Schlüsseldienst hat noch bis 23. August Betriebsurlaub. Touristen sind grad keine da. Nur ein potenzieller am Telefon. Ein Hotel in der Altstadt mit Schwimmbad? Das könne schwierig werden, sagt die Dame hinter dem Tresen.

Davor stehen in einem Glaskasten Andenken an Ingolstadt: ein Schnaps-Stamperl mit Panther für 4,80 Euro, ein Weißbierglas mit Münster für 7,90, ein Pilsglas mit Anatomie für 7,50, Handtücher mit "Ingolstadt"-Aufdruck für 9,50 Euro (klein) und 12,50 (groß).

Der ICE nach Dortmund über Aschaffenburg und Frankfurt, Abfahrt 17.31 Uhr, rauscht planmäßig heran. Nicht so der Regionalexpress nach Eichstätt – er kommt 20 Minuten später. Drei der vier Ticketschalter sind besetzt, die Schlange ist übersichtlich. Um 17.28 Uhr warten sechs Kunden.

Hinter den gelben Linien in der Raucherzone am Bahnsteig 1 steigt die Dichte. Ein Mann im blauen Polohemd, Typ mittlerer Angestellter, schlägt etwas schläfrig Seite eins eines dicken Taschenbuch-Schinkens auf, daneben wartet ein Jugendlicher in der Lederhose. Ab und an durchbricht der dramatische Endspurt verspäteter Reisender das Bild der Ruhe. Langeweile und Stress, Lethargie und Tempo scheinen nirgends so gut zu harmonieren wie hier.

Die größte Gruppe der Stunde marschiert gegen dreiviertel sechs an. Zwei Dutzend junger Leute mit Rucksäcken. Studenten aus Bayreuth, Fachrichtung Ingenieurwesen, fast die Hälfte ist weiblich. Ingolstadt war das Ziel der zweitägigen Exkursion. Das Audi-Werk haben sie besucht und die Vohburger Bayernoil-Raffinerie. "Alles sehr beeindruckend", sagt Philipp (22). Man hätte sie sogar fast ein wenig hofiert, meint Roland (26), vielleicht auch, weil Ingenieure derzeit sehr gefragt sind.

Die Ingolstädter Altstadt fanden die Studenten recht schön. Aber jetzt wollen sie heim. Der Bahnhof? Naja. "Die Toilette ist immerhin viel sauberer als die in Würzburg", erzählt Roland grinsend. Dann das Signal zum Aufbruch. Alle packen die Rucksäcke und marschieren zu Gleis 6. Der Regionalexpress nach Nürnberg ist schon voll. Junge Leute sitzen an den Türen auf den Stufen, andere stehen in den Gängen. Es ist 18 Uhr. Vier Minuten bis zur Abfahrt.

Die Bayreuther zwängen sich in die Waggons. Vielleicht, wer weiß, kommt einer von ihnen mal wieder nach Ingolstadt. Als Ingenieur. Oder einfach nur so.