"Dann ging die Tortur los"

09.06.2011 | Stand 03.12.2020, 2:44 Uhr

Auf seiner Turnmatte kann Francesco spielen und Spaß haben. Immer mit dabei ist Andrea Gaudio, die stets ein wachsames Auge auf ihren Sohn hat - Foto: Benz

Eitensheim (DK) Erinnert sich Angela Kolm an den 5. Oktober 2007, sagt sie: „Ich habe immer nur ihren Namen gerufen.“ An diesem Tag stand das Herz ihrer Tochter Svenja still. Von den Kindern, die mit Svenja geritten sind, wird sie später erfahren, dass Svenja vom Pferd geglitten und auf dem Boden reglos liegen geblieben ist.

„Die eintreffenden Ärzte des Krankenwagens aus Neuburg schafften es, sie nach zirka 15 Minuten zurück ins Leben zu holen“, erzählt die Eitensheimerin. Svenja kam auf die Intensivstation der Neuburger Kinderklinik St. Elisabeth. „Die Ärzte wussten nicht, was Svenja hat“, sagt ihre Mutter. Einer der Ärzte habe an den folgenden Tagen an einem Ärztekongress teilgenommen und schilderte den Kollegen den Fall. „Einer meinte, untersuche sie auf einen bestimmten Gendefekt hin.“ Dieser Hinweis sollte sich bestätigen. „Svenja hat CPVT. Dadurch kommt es, wenn ein bestimmter Adrenalinspiegel im Blut erreicht ist, zum totalen Herzstillstand“, erzählt Angela Kolm.“ Nach rund vier Wochen auf der Intensivstation kam eine weitere schlimme Nachricht für die Kolms: „Da haben uns die Ärzte zum ersten Mal gesagt, dass Svenja körperlich und geistig schwerstbehindert bleiben wird.“ Dieser Moment sei für Angela Kolm so gewesen, als ob es die Ärzte zu jemandem anderem gesagt hätten.
 
„Für mich war klar, dass es nicht so schlimm kommen wird.“ Ein Erlebnis sollte sie in ihrer Hoffnung bestätigen: „Svenja wachte für einen Tag auf. Sie hat ihren Bruder Stefan, ihren Vater und mich erkannt. Sie konnte sprechen und hat ‚Bibi und Tina’ gesungen.“ Danach sei Svenja erneut in einen komaähnlichen Zustand gefallen, erinnert sich Angela Kolm unter Tränen. „Das war so furchtbar.“ Nach dem Klinikaufenthalt in Neuburg kam die heute 13-Jährige in die Rehaklinik Vogtareuth. Svenja aber kämpfte weiter, wachte wieder auf und lernte alles neu. Im August 2008 ist Svenja von der Reha nach Hause gekommen. „Es zeigte sich, dass sie immer auf den Rollstuhl und auf fremde Hilfe beim Verrichten von Alltagsdingen angewiesen sein wird.“ Auch habe sich eine ganz starke Osteoporose entwickelt, sagt Angela Kolm.
 
Die Folge waren mehrere Brüche, darunter ein Knochenmarksbruch im Oberschenkel. „Hier bricht der Knochen im Knochen, was unglaubliche Schmerzen verursacht.“ Zu diesem Zeitpunkt habe sich Svenja aufgegeben. „Eine Psychologin und eine Heilpraktikerin schafften es, Svenja wieder neuen Lebensmut zu geben.“ Heute besuche Svenja die Johann-Nepomuk-Schule in Ingolstadt und sie lache und singe wieder. Blickt Angela Kolm auf ihre Tochter, meint sie: „Wenn sie lacht, lachen auch wieder ihre Augen und nicht ihr Mund.“ Während Svenja neun Jahre lang ein „normales Leben“ führen konnte, war das bei Francesco ganz anders. „Er bekam hohes Fieber und hat drei Tage und Nächte nur geschrieen“, erzählt Andrea Gaudio. Plötzlich habe sich das verändert und ihr Sohn sei total apathisch im Bett gelegen.
 
„Auch konnte er den Kopf nicht mehr halten und sich auf die Unterarme stützen.“ Als das geschah, war Francesco vier Monate alt. Ihre Besuche beim Kinderarzt wurden nicht ernst genommen. „Man beruhigte mich.“ Als Francesco mit acht Monaten Zuckungen bekommen habe und zu schielen anfing, schickte sie ein anderer Kinderarzt sofort in die Spezialklinik nach Vogtareuth. „Die Untersuchungen ergaben, dass der Körper kerngesund war. Aber Francesco hatte einen Totalschaden im Gehirn.“ Die Ursache sei zu dem Zeitpunkt noch unklar gewesen, später habe man den Verdacht auf Impfschaden diagnostiziert. Der Hirnschaden löste bei Francesco Epilepsie aus. „Dann ging die Tortur los“, erinnert sich Andrea Gaudio. Die Ärzte hätten verschiedene Medikamente ausprobiert, um die Anfälle in den Griff zu bekommen.
 
Doch die Medikamente hatten viele Nebenwirkungen. Er habe allergische Reaktionen und Probleme mit der Leber bekommen. Auch seien weitere, andersartige Krampfanfälle hinzugekommen. „Die ersten vier Jahre waren wir nur in der Klinik.“ Als Francesco wieder zu Hause war, änderte sich das Leben von Andrea Gaudio komplett. „Er musste und muss noch heute rundum versorgt werden. Ich stehe mehrmals in der Nacht auf und decke ihn zu. Auch höre ich sofort, wenn er krampft.“ Dann sei die Nacht für sie vorbei. „Ich gebe ihm seine Medikamente und bleibe eine Weile bei ihm.“ Zudem habe Francesco mit neun Jahren Asthma bekommen.
 
Trotz seiner Behinderung gehe der heute 15-Jährige in die achte Klasse in der Schule des Caritas-Zentrums St. Vinzenz. „Wir planen, dass er mit 18 Jahren die Förderstätte des Hollerhauses besucht.“ Francesco hat zwei Geschwister, Marcella und Vincenzo. „Sie kamen nach Francesco und kennen ihn nicht anders.“ Beide zeigten ein tolles Sozialverhalten zu ihrem Bruder, doch nicht nur zu ihm: „Zu allen behinderten Menschen. Sie schauen nicht auf das Äußere eines Menschen, sondern auf das Innere.“