Ingolstadt
„Wir haben uns gesetzt, gesoffen, Schluss“

Getöteter im Mailinger Schrebergarten: Angeklagter kann sich an nichts erinnern

19.08.2019 | Stand 23.09.2023, 8:14 Uhr
Dem Angeklagten wird vorgeworfen, am 17. August vergangenen Jahres in seiner Gartenlaube des Geflügelzuchtvereins Ingolstadt in Mailing einen Bekannten mit zwei Messerstichen getötet zu haben. −Foto: Stark

Ingolstadt (DK) Auf einen Rollator gestützt betritt der Angeklagte kurz vor Sitzungsbeginn den Saal des Landgerichts. Über seinem blauen Hemd trägt er eine Regenjacke, die er während des gesamten ersten Verhandlungstages in dem stickigen Saal nicht ablegen wird. Ein langer, grauer Bart umgibt sein Kinn. Die Polizisten, die ihn in der Nacht des 17. Augusts vor einem Jahr festgenommen haben, erkennen ihn deswegen kaum mehr, wie sie später im Zeugenstand erklären werden.

Und doch scheint zum Prozessbeginn an diesem Montag außerfrage zu stehen, dass dieser gebrechlich wirkende 66-jährige Mann, der während des Prozesses immer wieder seinen Kopf auf den Tisch legen muss, vor einem Jahr in seiner Gartenlaube auf dem Gelände des Geflügelzuchtvereins Ingolstadt in Mailing einen 30 Jahre alten Bekannten mit zwei Messerstichen getötet hat. Was während insgesamt fünf Verhandlungstagen vor allem geklärt werden muss,  ist: Wie bewusst war ihm das zu diesem Zeitpunkt? 
Die Staatsanwaltschaft geht wegen eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens, das im Verlauf der Verhandlung noch Thema sein wird, von der Schuldunfähigkeit des Mannes aus.  Dem 66-Jährigen wurde eine leicht- bis mittelgradige Demenz attestiert, die zusammen mit dem Alkohol, den er in der Tatnacht konsumiert hat, dazu geführt haben könnte, dass er die Konsequenzen seines Handelns nicht überschauen konnte. Deswegen steht auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Raum.    Wie der gebürtige Kasache, der mit seiner Frau schon seit Langem in Ingolstadt lebt, drei Söhne großgezogen hat und Tauben sowie Hühner züchtet, gestern vor Gericht erklärte, könne er sich an die Tatumstände nicht erinnern. Nach einigen Monaten in der Justizvollzugsanstalt Gablingen und einem kurzen Aufenthalt in der Isar-Amper-Klinik München-Ost ist der Mann inzwischen im Bezirkskrankenhaus Straubing untergebracht. „Das ganze Jahr über zerbrüte ich mir den Kopf“, sagte der Mann gestern zum Vorsitzenden Richter Konrad Kliegl. Aber er könne sich nicht erinnern und frage sich ständig: „Wie ist das passiert?“

Das Verhängnis nimmt wohl seinen Lauf, als das 30-jährige spätere Opfer, das auf einem anderen Grundstück der Anlage des Geflügelzuchtvereins Ingolstadt nahe dem Bayernwerk öfter Gartenarbeiten erledigt hat, ein Freund, der für den jungen Mann ohne Führerschein den Fahrer spielt, und der Angeklagte am 17. August  auf der Anlage  zusammenfinden und miteinander trinken. Zwei Flaschen Wodka habe der 30-Jährige dabeigehabt, meint sich der Angeklagte im Gerichtssaal zu erinnern. Die Polizei wird später aber drei Flaschen finden. Zwei leer, eine nur noch halb gefüllt. 
Die drei Männer gehen zur Gartenparzelle des 66-Jährigen. „Wir haben uns draußen auf die Terrasse gesetzt, gesoffen, Schluss“, sagt der Angeklagte. Die Erinnerung an den weiteren Verlauf sei weg. 
Ein Bild, was danach passiert ist, ergeben die  Aussagen der Zeugen, die am ersten Prozesstag aussagen. Kurz nach halb vier habe sich ihr Mann telefonisch von der Anlage aus bei ihr gemeldet, sagt die Frau des Angeklagten. Er wolle eine Verwandte sprechen, habe er ihr erklärt. „Hier will sich jemand mit ihr bekannt machen, hat er gesagt.“ Das sei für ihn schon ungewöhnlich gewesen, aufgebracht oder betrunken habe er aber nicht gewirkt, von einem Streit im Hintergrund sei auch nichts zu erkennen gewesen, erklärt die Frau. Sie habe dann nur geantwortet, die Verwandte müsse am Morgen arbeiten – damit sei das Telefonat beendet gewesen. „Um 3.45 Uhr hat er nochmal angerufen. Dann hat er gesagt, wie’s ausschaut, hat er jemanden mit dem Messer abgestochen“, sagt die Frau. Der Mann habe ihn so sehr provoziert, bis er zugestochen habe. „Aber ich glaube bis heute nicht, dass er das gemacht hat.“ Dennoch handelt sie, wie offenbar von ihrem Mann aufgetragen:  Sie meldet den Vorfall.   Nach einem missglückten Versuch bei der Integrierten Leitstelle bittet sie einen der Söhne um Hilfe, und um 4.05 Uhr setzen sie bei der Polizei einen Notruf ab. Mutter und Sohn eilen zur Anlage, ebenso wie die Polizei und Rettungswagen. 

Die Familie ist schneller da. Am Eingang der Vereinsanlage treffen sie den Vater an, der dort auf einem Stuhl sitzt. Sie laufen die etwa 100 Meter zur Gartenlaube des Mannes und sehen dort tatsächlich in der Essecke einen stark blutenden Mann. Da der Sohn  am frühen Abend Essen in die Parzelle gebracht hat, weiß er, dass sich noch ein dritter Mann im Gartenhaus aufhalten muss. Er findet diesen offenbar schlafend in einem Raum – und sperrt die Tür zu, aus Angst, dass dieser ausflippt, falls er den Freund so sieht. Mutter und Sohn räumen dann den Tisch beiseite und ziehen den Körper voller Blut aus der Ecke hervor. Als sie überprüfen wollen, ob der Mann noch lebt, kommt auch schon die Polizei – die nur noch den Tod des 30-Jährigen feststellen kann.  Der noch schlafende Mann, ein Bulgare, wird geweckt.  Eine Verständigung mit dem offenbar auch stark betrunkenen Mann funktioniert nicht wegen der Sprachbarriere. 
Währenddessen erklärt der tatverdächtige Rentner, der immer noch am Eingang sitzt, gegenüber mehreren Polizisten, er habe die Tat begangen.   Einige der vernommenen Beamten, die mit ihm Kontakt hatten,  schildern vor Gericht, dass er zunächst sehr ruhig gewirkt habe.  Mit zunehmender Arbeit der Spurensicherung sei er aber ungehaltener geworden. „Was wollt ihr denn noch? Ich habe doch alles zugegeben“, soll er mehrfach gesagt haben, erklärt eine Kriminalbeamtin. Er wird schließlich festgenommen.
An all das, sagt der Angeklagte, könne er sich nicht mehr erinnern. Ob das an den bei ihm gemessenen 1,52 Promille liegt oder an der attestierten Demenz, das ließ sich freilich beim Prozessauftakt nicht klären. 

Thorsten Stark