Zell
Den Braten riechen aber nicht sehen

Dinner im Dunkeln bei Regens Wagner Zell soll erfahrbar machen, mit welchen Problemen Blinde zu kämpfen haben

17.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:10 Uhr

Foto: Kai Bader

Zell (HK) Hinter dem ersten Vorhang wird es finster. Ich halte mich an meinem Vordermann fest, folge ihm mit kleinen Schritten, spüre einen zweiten Vorhang mein Gesicht streifen, dann . . . - absolute Nacht. Langsam führt uns Jan van Geldern in einem gefühlt endlosen Raum an einen Tisch. Er nimmt unsere Hände und legt sie auf die Stuhllehnen. Hier ist unser Platz. Ab jetzt müssen wir ohne Hilfe zurechtkommen.

Wir, das sind neun Gäste, die am Freitagabend beim Dinner im Dunkeln von Regens Wagner in Zell teilnehmen. Jeweils drei sitzen an einem Tisch. Bei der Aktion unter dem Titel "Rollentausch" sollen wir erfahren, wie sehbehinderte und blinde Menschen sich zurechtfinden müssen.

Ich ertaste eine raue Tischdecke, rechts die Spitze einer Serviette und dann das Besteck. Ich höre am Klappern von Messern und Gabeln, dass auch die anderen Gäste versuchen, sich an ihrem Tisch zurechtzufinden. "Direkt vor uns liegt noch ein kleiner Löffel fürs Dessert", sagt Josef Lerzer, Hilpoltsteins stellvertretender Bürgermeister, der mir am Tisch gegenübersitzt. "Und in der Mitte ist eine Tischdekoration", sagt meine Freundin, die links neben mir sitzt.

"Wir wollen die Blindheit erfahrbar machen", sagt Heike Klier, die Chefin von Regens Wagner, die ebenfalls teilnimmt. Ein Drei-Gänge-Menü soll serviert werden. Was uns erwartet, bleibt bis zum Ende des Abends ein Geheimnis. "Versuchen Sie, durch riechen und schmecken herauszufinden, was es ist", sagt Jan van Geldern, der mit seiner Frau Franziska und Claudia Großmann das Mahl serviert.

"Ich habe hier ein Glas", sagt van Geldern, der plötzlich neben mir steht. Und ich zucke zusammen. Ich konnte ihn nicht kommen hören und noch weniger kommen sehen. Van Geldern fährt mit seinen Fingern meinen Unterarm entlang, drückt mir das Glas in die Hand, das ich vorsichtig vor mir abstelle. Meine Sitznachbarin, Josef Lerzer und ich versuchen, miteinander anzustoßen. Es klappt erstaunlich gut, auch wenn das Klirren der Gläser zu heftig ist.

Auch Jan van Geldern und seine Helfer müssen sich blind zurechtfinden. "Wir arbeiten nicht mit Nachtsichtgeräten, haben einfach geübt", sagt er. "Viereinhalb Schritte zum ersten Tisch, drei weitere zum nächsten", erklärt Claudia Großmann, wie sie sich zurechtfindet. Als weitere Orientierungspunkte dienen die Klinke einer verschlossenen Tür, ein Wandregal und die Kante einer Küchenzeile.

Ich sehe mich um, kann nicht den kleinsten Schimmer oder Lichtspalt entdecken. Handys wurden vorher ausgeschaltet, Uhren abgenommen. "Man glaubt gar nicht, wie sehr sogar Uhren ohne Lampe leuchten" erklärt van Geldern. Dann macht er sich wieder auf und bringt die Vorspeise.

"Es wäre nett, wenn ihr Glas nicht genau vor ihnen am Platz steht, Sie es ein bisschen zur Seite schieben", sagt er und stellt die Schüssel zielsicher auf den Tisch. Meine Finger tasten. "Eine weiße Schüssel mit zwei Henkeln", denke ich, bis mir auffällt, dass die Schüssel nur in meinen Kopf weiß ist.

Ich löffele, tief über die Schüssel gebeugt, um nichts von der Suppe zu vertropfen. Josef Lerzer scheint es nicht anders zu gehen: "Wenn wir hier fertig sind, brauche ich eine Rückenmassage", sagt er. Was wir essen, ist uns schnell klar: Es ist eine Kürbissuppe mit gerösteten Kürbiskernen, die Jürgen Schäll, der Koch von Regens Wagner, für uns zubereitet hat. Kurz danach wird abgetragen. "Den Löffel behalte ich vorsichtshalber da, vielleicht brauche ich ihn beim Hauptgang noch", sagt Lerzer, ich ahne am Klang seiner Stimme ein Lächeln.

Lerzer erzählt von seinen ersten Erfahrungen bei einem Dinner im Dunkeln. "Es war eine seltsam angespannte Stimmung, weil ich nicht wusste, wer neben mir sitzt", erzählt er. Erst als einer am Tisch "Jetzt hab' ich mich vollgetröpfelt" gesagt habe, sei das Eis gebrochen gewesen. Hier in Zell haben wir unseren Sitznachbarn vorher gesehen. Das macht es leichter.

An den anderen Tischen klappern noch die Löffel in den Suppentellern. Die Gäste sprechen gedämpft, als mahne die Finsternis dazu. Dann höre ich wieder wie aus dem Nichts die Stimme van Gelderns: "Ich bringe das Hauptgericht."

Jetzt kommt keiner von uns ohne seine Finger weiter. Ich ertaste etwas Angebratenes, Warmes. Komme mit den Fingern dann auf etwas erstaunlich Kühles. Ich kann mir nicht vorstellen, was auf dem Teller liegt, nicht einmal, wie es liegt. "Sind das Kloßscheiben", fragt Lerzer. Jetzt fühle auch ich etwas, das weich und doch knusprig zu sein scheint. "Die könnten angebraten oder karamellisiert sein", sagt Lerzer.

Ich nehme die Gabel zur Hand, stochere damit vorsichtig im Teller. Als ich glaube, in Fleisch gestochen zu haben, versuche ich, ein Stück abzuschneiden. Immer wieder rutscht es herunter, immer wieder schiebe ich die Gabel leer in den Mund. "Bei mir ist es so groß, ich muss abbeißen", sagt Lerzer. Ist es Rindfleisch? Wild? Josef Lerzer und ich einigen uns auf Wild, meine Freundin tippt auf Geflügel. Irgendwie erwische ich anfangs nur Fleisch und ab und zu die vermeintlichen Klöße. "Ich habe Blaukraut", sagt meine Freundin. Auf meinem Teller scheint es zu fehlen. Wie der Rosmarin. "Den habe ich jetzt zum dritten Mal im Mund, das ist mir egal, jetzt ess ich die Garnierung mit", sagt Lerzer.

Um uns herum hört man nur noch das Klappern von Besteck, leise Diskussionen, was auf dem Teller liegt. "Ich weiß es auch nicht", sagt Heike Klier. Sie wollte anfangs während des Essens von Tisch zu Tisch gehen, hat das Unterfangen aber scheinbar als zu gefährlich eingestuft und bleibt an ihrem Platz am Nebentisch.

Jetzt habe ich nur noch Blaukraut. Da bin ich erstmals richtig sicher. Und irgendwann mehrere Gabeln voll Preiselbeeren. "Wie macht das ein Blinder, dass er - so wie wir normalerweise - alles auf eine Gabel nimmt und miteinander isst", fragt Lerzer. Ich zucke mit den Schultern, dann wird mir bewusst, dass er es nicht sieht.

Nach dem Nachtisch, bei dem ich übrigens nur einen Löffelbiskuit und einen Apfelschnitz erkenne, führt uns van Geldern wieder nach draußen. Wieder halte ich mich an seinen Schultern fest, wieder geht es nur mit vorsichtigen Trippelschritten vorwärts. Außen erwartet uns gedämpftes Licht, damit wir uns an die Helligkeit gewöhnen.

"War es Rindfleisch oder Wild", frage ich Claudia Großmann. "Höchstens Wildente", sagt sie und lächelt. Es war eine Entenbrust mit Orangensoße, Apfelblaukraut und Preiselbeeren. Angebratene Klöße? Weit gefehlt. Es waren Maisplätzchen. Und der Nachtisch ein Apfeltiramisu. Lerzer schüttelt den Kopf. "Es ist seltsam, dass man nicht mehr am Geschmack erkennt", sagt er.

Wir sind uns sicher, nur eine, höchstens eineinhalb Stunden beim Essen verbracht zu haben. Doch als Lerzer seine Uhr aus der Hosentasche zieht, schaut er verdutzt. "Es ist kurz vor neun, wir waren zweieinhalb Stunden da drin", sagt er. Scheinbar verliert man in der Finsternis auch das Gefühl für die Zeit.