Thalmässing
Tragödie um verhungerte Sarah

30.12.2009 | Stand 03.12.2020, 4:22 Uhr

Fragen über Fragen: Nach Sarahs Tod strömen die Fernsehteams nach Thalmässing und befragen die Nachbarn von Sarahs Familie. - Foto: Bader

Thalmässing (al) Die Nachricht erschüttert im August ganz Deutschland: In Thalmässing ist ein dreijähriges Mädchen verhungert. Zwar hatten die Eltern der kleinen Sarah, Angela (26) und Patrick (29) R., in allerletzter Sekunde noch versucht, das Schlimmste zu verhindern, doch auch der herbeigerufene Rettungsdienst kann nicht mehr helfen.

Das Mädchen, das nur noch acht Kilogramm wiegt, stirbt im Krankenhaus an Unterernährung. Die Eltern kommen wegen Totschlags durch Unterlassung in Haft, die Mutter von Sarah ist jedoch selbst schwer krank und liegt nach einer Operation im Koma.

In den Tagen nach dem Bekanntwerden dieser Tragödie belagern Boulevardreporter und Fernsehteams den Thalmässinger Marktplatz und die Pizzeria, in deren ersten Stock das Ehepaar 2005 gezogen war. Damals war die Mutter mit dem heute vierjährigen Dominik schwanger. Dass Angela R. zu diesem Zeitpunkt bereits das Sorgerecht für zwei Kinder entzogen worden war, weiß in Thalmässing kaum einer. Während Dominik den Kindergarten besucht und sich gut entwickelt, gerät seine kleinere Schwester immer mehr in Vergessenheit. Erzieherinnen, die sich nach dem Mädchen erkundigen, lügt die Mutter vor, es sei bei ihrer Schwägerin untergebracht. Den Großeltern, die Dominik regelmäßig zu sich holen, wird der Zugang zur Wohnung verweigert. Nach der Verhaftung der Eltern nehmen sie ihren Enkel zu sich.

Das Jugendamt Roth, das die Familie vier Jahre lang betreute, hatte den Eindruck, dass sich die Familie stabilisiert hatte. Zum letzten Mal besuchten deshalb Mitarbeiter des Jugendamtes die Familie R. im November 2008. Auch wenn Jugendamtsleiter Manfred Korth versichert, dass es keinerlei Hinweise gegeben habe, dass Sarah vernachlässigt werde, und auch keinerlei Meldungen von Nachbarn oder Bekannten in der Behörde eingegangen seien, werden Vorwürfe gegen die Behörde erhoben. Sie hätte die Betreuung der Problemfamilie nicht einstellen dürfen, sagt beispielsweise Georg Ehrmann, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe. Die Vorwürfe gegen das Jugendamt gipfeln in der Strafanzeige einer Anwältin, die dem Amt "Beihilfe zum Mord" unterstellt.

Auch Nachbarn und Erzieherinnen des Kindergartens, den Dominik besuchte, werden kritisiert, unter anderem von der bayerischen Familienministerin Christine Haderthauer (CSU). Ihnen wird vorgeworfenen, sie hätten "weggeschaut", das Leid des kleinen Mädchens nicht sehen wollen. Gegen die Kriminalisierung eines ganzen Orts wenden sich Landrat Herbert Eckstein und Bürgermeister Georg Küttinger, aber auch Leserbriefschreiber. Sie fordern ein konsequenteres Kinderschutzgesetz und ein engmaschigeres soziales Netz, um solche Tragödien zu verhindern.

Mitte September bricht Angela R. ihr Schweigen, nachdem ihr Mann bereits im August eine umfangreiche Aussage gemacht hat. Die schwer kranke Frau erklärt, dass sie nicht zuletzt wegen ihrer Krebserkrankung eine Art "Tunnelblick" gehabt habe und nur sich selbst gesehen habe. Am Schluss habe sie Angst gehabt, dass die Behörden ihr die Kinder wegnehmen würden, wenn der Zustand von Sarah bekannt werde.