Nürnberg
Plastinate gewähren tiefe Einblicke

Seelenlose "Körperwelten" als intime Sehenswürdigkeit der Schöpfung

30.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:03 Uhr

Die körperliche Anstrengung ist zum Greifen nah, wenn Atlas die Welt auf seinen Schultern trägt. - Foto: Pelke

Nürnberg (HK) Die Anblicke gehen unter der Haut: Was dem menschlichen Auge sonst verborgen bleibt, legt die in Nürnberg eröffnete „Körperwelten“-Ausstellung schonungslos offen. Gleich hinter dem Eingang geht die Reise in fremde Welten los, die sonst nur Anatomen zu Gesicht bekommen.

Ein Mann trägt wie Atlas, der mythische Held, die Welt auf seinen Schultern. Die körperliche Anstrengung ist zum Greifen nah. Die Muskelgruppen vollführen ihr kompliziertes Zusammenspiel, damit die Erdkugel nicht zu Boden kullert. Der Bizeps im Oberarm beugt das Ellbogengelenk, der Trizeps streckt es. Nur durch diesen Antagonismus wirkt die Anstrengung so harmonisch. Zwiespältig dagegen ist der Eindruck, wenn man versucht, diesem „Atlas“ in die Augen zu schauen. Dann verschwindet der wissenschaftliche Blick. Dann sieht man den Menschen hinter der Plastination. Fragt sich, ob die Farbe der Glasaugen wirklich seiner Iris entsprochen hat. Wundert sich über die halbseitige Frisur, die wie ein Irokesenschnitt aus der einen Schädelhälfte sprießt.

Kurzum: Man betrachtet das Plastinat doch mit den menschlichen und mitfühlenden Sehgewohnheiten der sichtbaren Welt. Der freie Blick ins Körperinnere ist für unsere Augen fremd. „Für das unsichtbare Körperinnere hat die Evolution keine optischen Präferenzen eingeübt“, schreibt Gunther von Hagens unter der Überschrift „Gruselleichen, Gestaltplastinate und Bestattungszwang“ im Begleitband der Ausstellung. Deshalb habe von Hagens peinlich genau darauf geachtet, dass es beim Betrachten seiner Plastinate zu keinen Körperekelreaktionen kommt. In der Ausstellung bekomme man deshalb weder leere Augenhöhlen noch Zahnlücken zu sehen. Das führt dazu, dass die Exponate teilweise menschliche Züge bekommen. Menschen nur ohne Haut eben, die aus der Ferne betrachtet an „Rothäute“ erinnern.

An Mumien erinnern die präparierten Leichen der Körperwelten jedenfalls wenigstens nicht im klassischen Sinn. Im alten Ägypten wollte man mit der Balsamierung der toten Körper der Persönlichkeit ewige Dauer verleihen. Oswald Spengler hat aus dem Bestattungsritual die Analogie gezogen, dass der Ägypter die Vergänglichkeit verneint. Bei den „Mumien“ des Gunther von Hagens scheint dies nicht das Ziel zu sein. Vielmehr geht es um einen rationalen Körperkult jenseits menschlicher Schwächen. Die Seele hat darin keinen Platz. Genauso wie die Persönlichkeit eines Individuums.

Denn von der ursprünglichen Person des Körperspenders bleibt nach dem Prozess der Silikonplastination nicht mehr allzu viel übrig. Jedenfalls von dem, was die Person jenseits des rein organisch-materiellen Zustandes einmal ausgemacht hat. Zunächst wurde dem toten Körper über die Arterien Formalin injiziert, um den Verwesungsprozess zu stoppen. Mit Pinzette, Skalpell und Schere wurden dann Haut, Fett- und Bindegewebe entfernt. Danach wird der Restkörper „haltbar“ gemacht. Wasser und lösliche Fette werden in einem Lösungsmittelbad aus dem leblosen Körper herausgelöst und der tote Mensch in eine Kunststofflösung eingelegt. Nach diesem Prozedere kann der Kunststoffkörper in jede gewünschte Position gebracht werden. Mit Drähten, Nadeln, Klammern und Schaumstoff muss er nur noch wie eine Schaufensterpuppe in eine anatomisch korrekte Position gebracht werden.

Nach rund einem Jahr ist alles fertig und das Präparat bereit für die Körperwelten. Der Besucher soll sich nun wie 40 Millionen Menschen vor ihm mit seinem eigenen, organischen Innenleben auseinandersetzen. Die Körperspender sehen ihre Aufgabe darin, die Hinterbliebenen mit ihrem eigenen Fleisch aufzuklären. Das Medium ist dabei die Botschaft: der eigene Leib. „Der Körper erfährt einen Bedeutungswandel: vom Gruseligen zur intimen Sehenswürdigkeit der Schöpfung“, jubelt Gunther von Hagens über seine Idee, menschliche Plastinate öffentlich in Szene zu setzen.

Die Ausstellung mit ihren über 200 Präparaten konfrontiert den Besucher mit Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit und soll dadurch zur gesünderen Lebensweise animieren. „Man spürt in der Ausstellung, dass der Körper keine göttliche Gabe oder ein natürliches Geschenk ist, sondern eine Lebensaufgabe“, sagte die Kuratorin und Frau Gunther von Hagens, Angelina Whalley, bei der Eröffnung der Ausstellung. Das Konzept scheint aufzugehen. „Ich bin positiv überrascht, wie respektvoll und mit welcher Ernsthaftigkeit die Ausstellung die Biologie des Menschen vermittelt. Man fühlt sich selber sehr stark betroffen, und auch meine Schüler zeigen echtes Interesse“, freute sich Berufsschullehrer Ulrich Dreykorn und die Schüler nickten.

Wer wollte auch gegen eine gesündere Lebensweise einen Einspruch erheben. Alle philosophischen Fragen dürften sich mit den Körperwelten trotzdem nicht geklärt haben. Dabei kommt einem der Ausspruch von Emerson Pugh in den Sinn: „Wenn das menschliche Gehirn so simpel wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so simpel, dass wir es nicht könnten.“

Die Ausstellung „Körperwelten – eine Herzenssache“ wird bis zum 11. Februar im Quelleareal in Nürnberg gezeigt.