Hilpoltstein
Zeitreise mit Stromschnellen

Rother Triathletin paddelt mit dem Kanu 700 Kilometer durch Kanadas Wildnis Wochen ohne Wettkampfmodus

02.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:25 Uhr

Foto: DK

Hilpoltstein (HK) Normalerweise reist Triathletin Christine Waitz eher im Wettkampfmodus durch die Welt. Dieses Mal hatte es die Rotherin aber nicht eilig. Ganz ohne Zeitdruck fuhr sie dreieinhalb Wochen lang 700 Kilometer mit dem Kanu durch Kanada. Jetzt erzählt die 32-Jährige von ihren Eindrücken.

Das Boot schaukelt, man blickt konzentriert auf das Wasser vor sich, um keinen der großen Felsbrocken, die oft nur Zentimeter unter der Wasseroberfläche lauern, zu übersehen. Gleichzeitig versucht man, die schier überwältigenden Eindrücke der Umgebung aufzusaugen. Hinter jeder Flussbiegung aufs Neue. Kein Wunder, dass man jeden Abend todmüde in seinen Schlafsack kriecht. Abenteuer-(Zeit-)Reisen sind anstrengend.

Vor über drei Jahren hielt ich ein vergilbtes Foto in der Hand. Es zeigte zwei junge Männer im Kanu. Einer von ihnen machte den fatalsten Fehler überhaupt - in einer Stromschnelle langte er reflexartig an den Rand des Boots, um sich festzuhalten. Dass das Kanu daraufhin kenterte, weiß ich nur aus der Erzählung. Eine von vielen faszinierenden Geschichten einer Reise mit dem Kanu, fast 700 Kilometer fernab jeglicher Zivilisation.

25 Jahre später stehe ich an der Einfahrt zu eben der Stromschnelle, die ich von dem vergilbten Foto kenne. Neben mir Jörn, einer der Vier, die vor 25 Jahren hier standen. Er gibt die Geschichte gerade wieder zum Besten. Im Angesicht des tosenden Wassers klingt die Sache in meinen Ohren deutlich weniger lustig als zuvor. Doch jetzt habe ich keine andere Wahl, als ins Kanu zu steigen und die Herausforderung anzunehmen. Nach tagelanger Reise sind wir am O'Grady Lake in Kanada angekommen, unserem Ausgangspunkt. Der nächste Ort, ein kleines Indianerdorf mit einem Dutzend Häuser, liegt 650 Kilometer weit entfernt. Dazwischen nichts als unberührte Natur.

Also rein ins Kanu, noch dreimal das Mantra vor sich hin gesagt - nicht an den Rand greifen - und los! So beginnt Anfang September unsere dreieinhalb Wochen lange Reise über den Nadla-, Keele- und Mackenzie River. Dreieinhalb Wochen im Freien. Mit über 110 Kilogramm Ausrüstung. Ein echtes Abenteuer in vielerlei Hinsicht. Und eine nicht zu unterschätzende körperliche Belastung. Schon am O'Grady Lake liegen die Temperaturen nahe am einstelligen Bereich. Der Nordwind bläst eisig und die nahen Berggipfel haben über Nacht eine weiße Schneedecke bekommen. Der Fluss ist oft so seicht, dass wir das Kanu im kalten Wasser watend über Untiefen hinwegschieben müssen. Während des Paddelns, wenn man in Bewegung ist, nicht allzu schlimm. Doch danach kommt man nicht nach Hause, dreht die Heizung voll auf, stellt sich unter die warme Dusche und kocht sich eine heiße Schokolade. Nein, zunächst sucht man nach einem geeigneten Zeltplatz, der Feuerholz bereithält und eine ebene Fläche für das Zelt. Das klingt recht simpel, ist jedoch alles andere als einfach im teils felsigen, abschüssigen oder auch nassen Gelände. Dann packt man das Boot aus, sammelt Feuerholz, baut einen Unterstand, schlägt das Zelt auf, macht Feuer. Nicht selten bibbernd und zitternd. Willkommen in der Wildnis.

Die ist, davon abgesehen, mehr als beeindruckend. Die Landschaft: zwischen unendlicher Weite und engen, sich durch das Gestein windenden Flusstälern. Zwischen weichen Hügeln und spitzen, scharfkantigen Schieferfelswänden. Zwischen unendlicher Stille, ohne auch nur ein Vogelgezwitscher und dem unaufhörlichen Donnern eines Flusses. Zwischen grauen Pastellfarben bei Regen und leuchtend klaren Herbstfarben eines Sonnentages. Die Begegnungen mit Tieren, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt, wie Karibus, Weißkopfseeadlern, Bären, Bibern, Luchsen. Nein, beschreiben lassen sich diese faszinierenden Eindrücke nicht.

Sehr wohl aber unser Tagesablauf. Denn auch mitten im Nichts stellt sich erstaunlich schnell eine Routine ein. Aufstehen, Holz sammeln, Feuer machen, Wasser holen, Kaffee kochen, Frühstück machen - morgens gibt es Bannok, ein Brot aus Hefe und Mehl mit etwas Marmelade - abwaschen, Unterstand und Zelt abbauen, packen, das Kanu beladen und ab auf den Fluss. Zwischen zweieinhalb und fünfeinhalb Stunden, je nach Wetter und Wegstrecke, sind wir täglich unterwegs, bevor wir ein neues Camp aufschlagen. Klar, nun folgt das Prozedere vom Morgen in umgekehrter Reihenfolge. Je nach Wetter und Ort geht es im Anschluss zum Fischen, Wäschewaschen oder "Baden" - mehr als den großen Zeh bringt man häufig nicht ins Wasser. Stattdessen nutzt man lieber die Topf-Dusche mit über dem Feuer erwärmten Wasser.

Selbst, wenn es danach erst Nachmittag ist, fühlt man sich meist erschöpft. "Wovon eigentlich", fragten wir uns zu Beginn. Schnell wird jedoch klar: Kaffeetrinken bedeutet eben nicht nur, auf einen Knopf zu drücken. Es ist hier körperliche Arbeit, nämlich Holz sammeln und hacken, Wasser holen und Feuer schüren. Dafür gibt es zum Kaffee vor herrlicher Kulisse, Zeit, sehr viel Zeit - Minuten und Stunden haben hier schließlich keine Relevanz - zu sitzen und einfach nur auf den Fluss oder in den Himmel zu schauen, ist ein unbeschreiblicher Genuss.

Meistens. Denn gelegentlich kommt das Wettkampf-Ich durch, das die Dinge am liebsten so perfekt und so schnell wie möglich schaffen möchte. Warum heute nur 2,5 Stunden, wenn man auch drei Stunden Paddeln könnte? Warum das Zelt in Ruhe aufbauen, wenn man sich mit veränderter Technik auch über eine neue Rekord-Aufbau-Zeit (geschätzt) freuen kann? Irgendwann erkennt man, dass es sowieso egal ist. Denn am Ende geht der Flug nach Hause auch nicht eher, wenn man das Zelt in Rekordzeit aufbaut. Manchmal muss man dann über seine eigenen Marotten lachen. Wenn Jörn den Lagerfeuer-Steinkreis kopfschüttelnd anschaut und fragt, ob ich diesen nicht nach Schönheit aufbauen könnte, sondern so, dass er funktioniert. Ertappt.

Abends wird über dem Lagerfeuer gekocht. Manchmal Fisch, meist jedoch aus dem mitgebrachten Proviant. Eine Tasse Tee und etwas Schokolade, dann geht es schlafen. Oft ist es noch hell, als wir uns ins Zelt verkriechen und fast immer ist es schon hell, wenn wir uns wieder aus dem Schlafsack schälen.

Die Highlights dieser dreieinhalbwöchigen Tour sind dabei schwer herauszufiltern. Sofort kommen einem unzählige landschaftliche Höhepunkte in den Sinn. Die elf Karibus, die - kurz bevor wir passieren - den Fluss durchschwimmen. Die Bärenmama mit ihrem Jungen am anderen Ufer. Die gemeisterten Stromschnellen, aber auch die beiden Male, als wir kentern. Die Erkenntnis, dass einem das Leben alleine wenn es warm und trocken ist und man keinen Hunger hat, ziemlich perfekt erscheinen kann.

Der absolute Höhepunkt ist jedoch die Ankunft am Zielort Norman Wells. Hier ist der Mackenzie River vom reißenden Gebirgsbach längst zum trägen Strom geworden. Wir müssen ordentlich Kraft ins Paddel legen, um vorwärtszukommen. Schon am zweiten Tag haben wir aber so starken Gegenwind und so hohen Wellengang auf dem über ein Kilometer breiten Fluss, dass wir praktisch auf Land getrieben werden und ein unfreiwilliges Lager aufschlagen. Nach einem Tag mit gutem Wetter geht es uns erneut so: Obwohl wir mit aller Kraft paddeln, kommen wir kaum vom Fleck. Dabei ist das Ziel bereits so nahe!

Der Nordwind bringt uns nicht nur zum Stillstand, sondern zieht auch eisig-graues und regnerisches Wetter mit sich. Nach dreieinhalb Wochen im Freien wünsche ich mir eine echte warme Dusche, ein Zimmer, ein richtiges Bett und ein Festmahl. Wohl wissend, dass man der Naturgewalt gegenüber völlig machtlos ist, liegt man im Zelt, das Stunde um Stunde im Wind bebt. Wenn sich dann am nächsten Morgen keinerlei Besserung abzeichnet, sinkt die Stimmung, ebenso wie das Thermometer, Richtung Gefrierpunkt. Nach zwei gescheiterten Anläufen schlagen wir entnervt und erschöpft nur noch unser Zelt auf. Erst die letzten Schokoladen-Reste glätten zumindest die Stimmungs-Wogen.

Um halbzehn Uhr abends flaut der Wind endlich ab. Wir nehmen den dritten Anlauf. 24 Kilometer Nachtfahrt. In Minuten packen wir unser Boot und ziehen uns so warm an, wie nur möglich. Noch vor zehn Uhr sind wir auf dem Fluss. "Das wird jetzt entweder richtig gut, oder richtig scheiße", meint Jörn.

Es sieht gut aus. Die untergehende Sonne kämpft sich durch Wolken-Reste und verwandelt das Wasser in ein Gold und Dunkelblau glitzerndes Mosaik. Dennoch ist die Dunkelheit nervenzehrend. Ohne Sicht auf das Ufer hat man keine Ahnung, wie schnell man unterwegs ist. "Kommen wir überhaupt vom Fleck" Erst, als am rechten Ufer Straßenlaternen auftauchen, bemerken wir, dass es zügig vorangeht.

Doch noch etwas zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich: eine merkwürdig aussehende Wolke zu unserer Linken. Plötzlich verfärbt sich die Wolke grünlich und bewegt sich. Wir paddeln weiter, erwarten jeden Meter den Ponton, unser Ziel. Auf diesen letzten Kilometern spielt der Himmel über uns zum Willkommenskonzert auf. Nordlichter ziehen grün und rosa wie eine Licht-Symphonie über uns hinweg. Wir können uns kaum entscheiden zwischen jubeln, bestaunen, paddeln, zittern und dem Ausschauhalten nach unserem Ziel, das wir kurz darauf erreichen. Ein Uhr nachts ist es, als wir zitternd und überwältigt unter Nordlichtern unser Zelt am Pier aufschlagen.

Wenn so eine einmalige Reise mit so einem unvergesslichen Spektakel ihren Abschluss findet, wird einem wieder bewusst, wie glücklich man sich schätzen kann, so etwas erleben zu dürfen. Und wie oft ich selbst unzufrieden bin, auch wenn es kaum Grund dazu gibt. "Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen", sagte Marcel Proust.