Hilpoltstein
"Sie erfahren, dass sie wertvolle Menschen sind"

Zeller Werkstätten werden 30 Jahre alt Oft die einzige Chance für behinderte Menschen, ihre Arbeitskraft einzubringen

29.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:22 Uhr

Jeder bringt sich nach seinen Fähigkeiten ein: Klaus schraubt geschickt die Muttern eines Motors fest, während ihn Werkstattleiter Willi Wolfert (oben rechts) beobachtet. Ingrid prüft, ob die Stifte für Schwan Stabilo richtig eingelegt sind und Harald verpackt Klemmen. - Foto: Bader

Hilpoltstein (HK) Arbeit für über 160 gehörlose Menschen mit Mehrfachbehinderung: Das sind die Zeller Werkstätten, die jetzt ihr 30-jähriges Bestehen feiern. "Die Werkstätten sind für die Behinderten nicht nur ihr Arbeitsplatz, sie sind oft auch ihre Heimat", sagt Leiter Willi Wolfert.

Die Menschen, die in der Werkstatt arbeiten, tun dies aus eigenem Antrieb. "Keiner der Behinderten ist verpflichtet, zu arbeiten. Sie könnten auch Däumchen drehen", sagt Wolfert. "Aber hier tun sie etwas, was sie erfüllt, hier treffen sie ihre Freunde, hier können sie mit anderen reden." Das Geld, das sie dafür bekommen, ist kaum der Rede wert: Zwischen 70 und 140 Euro erhält ein Mitarbeiter netto im Monat - bei einem Acht-Stunden-Tag.

"Doch sie arbeiten ohne Zeitdruck, machen, was sie trotz geistiger und körperlicher Behinderung können und so schnell wie sie es können", erklärt Wolfert. Wie dies konkret aussieht, erläutert Sozialpädagogin Stefanie Grabenbauer an einem Arbeitsplatz, an dem unter anderem Luise, Petra und Ingrid Filzschreiber für Schwan Stabilo verpacken. "Eine von ihnen erkennt nur eine Farbe, sie steckt dann eben nur den ersten, roten Stift in die Hülle. Die Nächste in der Reihe ist geistig fitter und füllt dann mit den restlichen Stiften in der richtigen Reihenfolge auf." An der letzten Station hat Ingrid ihren Platz. "Sie steckt nicht nur das Kärtchen mit der Produktinformation in die Plastikhülle und verklebt sie, sie tut viel mehr", sagt Grabenbauer. "Ingrid kann am meisten, sie übernimmt die Endkontrolle, prüft, ob die Stifte in der richtigen Reihenfolge sind und ob das Logo nach vorne schaut."

Es sei die Kunst, einen Arbeitsauftrag in so viele Schritte zu unterteilen, wie es notwendig ist. Für den Kunden sei dagegen nur das Endprodukt ausschlaggebend. "Einen Bonus, weil wir eine Behindertenwerkstatt sind, bekommen wir nicht. Für die Firmen zählen ausschließlich Preis, Qualität und Termintreue", sagt Wolfert.

Die Vorbereitung der einzelnen Arbeitsschritte sei äußert aufwendig. Harald verpackt zum Beispiel immer 100 Klemmen für einen Blitzschutz in einer Schachtel. Diese steht auf einer Waage und aufgrund des Gewichts der Teile zeigt diese an, wie viele Klemmen in der Schachtel sind. "Bei ihm haben wir Glück, Harald kann ein bisschen rechnen", sagt Wolfert. Als 98 in der Schachtel sind, fragt Wolfert in Gebärdensprache, wie viele fehlen und Harald streckt nach kurzem Überlegen zwei Finger in die Höhe. Viele andere könnten das nicht. Dann male man eben die Zahl 100 auf einen Zettel und lege ihn daneben. "Wenn die Zeichen auf der Waage genauso aussehen wie die auf dem Zettel, dann passt es." Um den Behinderten solche Hilfen an die Hand zu geben, brauche es gute Gruppenleiter. "Das sind Fachkräfte, also meist Gesellen oder Meister, die einfach gern mit Behinderten arbeiten." Diese zu finden sei nicht immer einfach. "Viele springen nach einem Probearbeitstag ab, andere kommen nach dem Probetag aber freudestrahlend und erzählen, wie schön es ist, mit diesen Menschen zu arbeiten - die brauchen wir."

Wenn einer der Behinderten mit seiner Arbeit nicht zurechtkommt, geht er entweder zum Gruppenleiter oder eben zu Stefanie Grubenbauer. "Es gibt welche, die sehe ich nur am Morgen, wenn wir uns begrüßen, die anderen kommen fünfmal am Tag", sagt sie. Und genauso unterscheiden sich Arbeitskraft und Wille. "Der einen braucht regelmäßig zehn Minuten Pause, der andere würde acht Stunden durcharbeite, ohne etwas zu essen oder zu trinken", so Wolfert.

Ob die Gehörlosen im täglichen Leben wahrnehmen, dass sie eine Behinderung haben, komme auf ihr Umfeld an. "Wenn sie hier bei uns sind, leisten sie etwas, sehen ein Ergebnis ihrer Arbeit und merken wenig von ihrer Behinderung", sagt Grubenbauer. "Wenn derselbe aber zu einem Bäcker geht und keine Semmeln kaufen kann, weil ihn keiner versteht, oder Mofa fahren möchte und das nie lernen wird, dann wird ihm die Einschränkung bewusst."

Die gegenseitige Rücksichtnahme der Behinderten ist dabei erstaunlich. So wie bei German und Harald, die gemeinsam einen Motor montieren. "Während German langsam Mutter um Mutter auf ein Gewinde dreht, sitzt ihm Klaus auf die Arme gebeugt gegenüber und sieht ihm in aller Seelenruhe zu. Erst als German fertig ist und den Motor über den Tisch schiebt, beginnt die Arbeit für ihn. Blitzschnell nimmt Klaus einen elektrischen Schraubendreher und eine Zange zur Hand und zieht die Muttern fest. Während sie beide für die Rother Firma Speck Pumpen arbeiten, schaffen die anderen zum Beispiel für die Firma Pröpster oder für Schwan Stabilo.

An Aufträge zu kommen, ist laut Wolfert schwer. Einfach zu einer Firma gehen und nach Arbeit zu fragen, sei hoffnungslos. "Da kommen wir nie bis zu denen, die die Entscheidungen treffen", sagt Wolfert. Eine Zusammenarbeit werde aber oft durch die Mitarbeiter in der Werkstatt angestoßen, die Ansprechpartner in Firmen kennen. "Oder eine Firma trägt es weiter und empfiehlt anderen, bei uns etwas machen zu lassen, weil sie selbst zufrieden sind", so Wolfert. "Derzeit haben wir eine Art Vollbeschäftigung, wir haben genügend Aufträge." Wenn aber zu wenig zu tun sei, würden die Behinderten am meisten leiden. "Sie wollen etwas tun und sie bohren dann bei ihren Gruppenleitern nach, warum sie nichts machen können."

Schön findet Wolfert, dass die Arbeit seiner Werkstätten inzwischen viel besser akzeptiert werde. "Früher durften wir oft nicht sagen, für wen wir arbeiten", sagt der Werkstattleiter. "Heute gibt es Firmen, die schmücken sich damit, dass sie in einer Behindertenwerkstatt fertigen lassen."

Ob es die Zeller Werkstätten noch weitere 30 Jahre geben wird, ist laut Wolfert schwer zu sagen. "Viele sind dafür, Behindertenwerkstätten aufzulösen, weil es keine Integration in die normale Arbeitswelt ist." Es gelinge aber nur ganz wenigen, geistig wie körperlich sehr fitten Mehrfachbehinderten, ein Praktikum oder gar eine Stelle am freien Arbeitsmarkt zu ergattern. "Wir müssen uns bewusst sein, dass die meisten unserer Schützlinge draußen keine Chance haben", sagt Wolfert. "Wir müssen akzeptieren, dass die Werkstatt oft die einzige Möglichkeit für sie ist, ihre Arbeitskraft einzubringen - und sie erfahren bei uns, dass sie wertvolle Menschen sind."