Hilpoltstein
"Es gibt ein Leben vor dem Tod"

Thalmässinger Theologe Hans Seidl spricht über Trauer und Allerheiligen

30.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:03 Uhr

An Allerheiligen schmücken die Angehörigen die Gräber ihrer Liebsten besonders schön - Fotos: Meyer

Hilpoltstein (HK) An Allerheiligen tauchen rot flackernde Grablichter die Friedhöfe in einen unwirklichen Schein. Viele Menschen nutzen die Gelegenheit, an den liebevoll hergerichteten Gräbern um ihre Liebsten zu trauern. Bei allem Schmerz solle man aber das Wichtigste nicht vergessen, mahnt der Thalmässinger Theologe Hans Seidl: die Lebenden.

Es sei unheimlich wichtig, zu trauern, sagt Hans Seidl (56, Foto). Trauer trage sehr unterschiedliche Züge: Die einen stürzen sich in Arbeit, die anderen weinen wochenlang. „Das ist alles okay, auch wenn man manchmal komische Gedanken dabei kriegt“, sagt Seidl. Doch das Ziel dieses Prozesses sei, ins Leben zurückzufinden. „Manche sind den Toten näher als den Lebenden.“

Besonders tragisch sei das für Geschwister von verstorbenen Kindern, die in der Trauer ihrer Eltern einfach vergessen würden. „Wir wissen nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, aber wir wissen, es gibt ein Leben vor dem Tod.“ Und das solle man ausfüllen, mit Freunden, mit Familie, mit allem, was wirklich wichtig sei.

Nicht umsonst hat eine australische Pflegerin, die viele Patienten bis in den Tod begleitete, sogar ein Buch darüber geschrieben mit dem inhaltsschweren Titel: „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen.“ Viele Menschen würden in alten Mustern feststecken und erst auf dem Sterbebett realisieren, dass sie die Wahl gehabt hätten. Die Wahl, sich seine Wünsche zu erfüllen, seine Freundschaften zu pflegen, sich um die Familie zu kümmern und weniger zu arbeiten.

Seidl spricht sich ebenfalls dafür aus, nicht alles für den „Tag X“ aufzusparen, beispielsweise, wenn man endlich in Rente gehe. Wenn man dann erst alle seine Freunde besuchen wolle, sei es vielleicht zu spät.

Seidl selbst fährt an Allerheiligen in seine Heimat, in den kleinen Ort Pechbrunn in der Oberpfalz. Dort wird er den Friedhof besuchen, wo seine Eltern begraben liegen. Aber viel wichtiger ist ihm der Kontakt zu seinen beiden Geschwistern, die er bei dieser Gelegenheit trifft. Trotzdem hält er es für wichtig, einen Ort zum Trauern zu haben, „damit wir begreifen und loslassen können“.

Tod und Trauer sind für den Theologen schon immer ein Thema gewesen, das ihn sehr interessiert habe. „Denn in unserem Leben ist nichts so sicher wie die Tatsache, dass wir sterben werden.“ Mit Tod und Sterben wird der Schulseelsorger am Gymnasium Hilpoltstein oft konfrontiert: durch Gespräche mit Eltern, Lehrern und Schülern, die einen Verlust erleiden mussten und seinen Rat und Beistand suchen. Trost kann Seidl kaum spenden, aber zuhören, wenn sich die Menschen aussprechen wollen. Und er könne als Lotse fungieren für einen Weg zurück ins Leben. „Wir können mitsterben oder wir können uns entscheiden, weiterzuleben“, sagt er.

Seidl empfiehlt, den Tod nicht zu tabuisieren, sondern in das Leben zu integrieren. Die Mexikaner würden ihren „Tag der Toten“ Anfang November sogar als farbenprächtiges Volksfest feiern – mit Partys und Picknick im Friedhof, in den Schaufenstern liegenden Totenköpfen aus Zuckerguss und Skeletten, die Häuser und Straßen schmücken.

Von der Trauer, die an Allerheiligen in Deutschland auf den Friedhöfen herrscht, ist dabei nichts zu spüren – in Mexiko dominieren Fröhlichkeit und Feierlaune den Umgang mit den Verstorbenen.

Das mag Europäern befremdlich oder gar makaber erscheinen, denn Allerheiligen ist ein stiller Feiertag. „Vielleicht ist das gar nicht mehr zeitgemäß“, gibt Seidl angesichts des Wandels in der Gesellschaft zu bedenken. „Wenn das Ganze zum Wettstreit um das schönste Grab und die tollsten Gestecke wird, dann denke ich mir: Schaut doch auf das Wesentliche. Vor lauter Jenseits vergessen wir manchmal die Leute um uns herum.“