Hilpoltstein
"Die Menschen fühlen sich wohl hier"

Serie über Regens Wagner Zell: Von der Taubstummenanstalt zu einer offenen Einrichtung

31.08.2015 | Stand 02.12.2020, 20:51 Uhr

Die Zeiten haben sich geändert: So sah es vor etwa einem Jahrhundert bei Regens Wagner Zell aus. - Foto: Regens Wagner Zell

Hilpoltstein (HK) Wagemut und Gottvertrauen: Damit hat es die langjährige Leiterin Schwester Gerda geschafft, Regens Wagner Zell in vier Jahrzenten von einer Anstalt in eine von Offenheit geprägte Einrichtung zu verwandeln. Heute hat die zukünftige Provinzoberin der Dillinger Franziskanerinnen ihren letzten Tag in Zell.

 

Als die Ordensfrau und studierte Pädagogin vor fast 40 Jahren nach Zell kam, fand sie ein „Anstaltsleben“ vor: mit riesigen Gebäuden, Speise- und Schlafsälen mit wenigen Bädern und Toiletten. Das hat sich im Laufe der Zeit radikal gewandelt. „Wir haben uns von der Anstalt zu einem Kompetenzzentrum für Menschen mit Hörschädigung entwickelt“, erklärt die langjährige Leiterin. Jetzt gibt es moderne Wohnungen, funktionelle Arbeitsplätze, vielfältige Therapieräume und sogar ein künstlerisches Atelier hat Zell mittlerweile.

Aber das sei nur die fachliche Seite. „Die Menschen fühlen sich wohl hier“, zeigt sich Schwester Gerda überzeugt. Dafür würden die vielen Mitarbeiter sorgen, die ihre Arbeit mit Herzblut machen, so wie sie selbst. „Man kann noch so schöne Räume schaffen, aber wenn es an guten Mitarbeitern fehlt, wird das nichts.“

Höchst bescheiden waren die Anfänge in Zell, heißt es in der Festschrift zum 125-jährigen Bestehen im Jahr 1997. Der Priester und Professor Johannes Evangelist Wagner, der auch Regens – also Leiter – des Priesterseminars in Dillingen war, kaufte am 16. März 1872 das frühere Wasserschloss in Zell für 8888 Gulden. Er zeigte ein unermüdliches und aufopferndes Engagement für diejenigen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt wurden. Damals wurden soziale Aufgaben keineswegs als gesellschaftliche Verpflichtungen angesehen. „Mit Behinderung wollte man nichts zu tun haben“, erklärt Schwester Gerda. Deshalb hätten sich Ordensgemeinschaften dieser Aufgabe angenommen.

Zwei Klosterfrauen zogen im April 1872 mit neun gehörlosen jungen Frauen in das von Regens Wagner erworbene Schloss. Zusammen mit den „Taubstummen“ gingen die Schwestern ans Werk. Wer arbeiten konnte, trug entsprechend seiner Fähigkeiten zum gemeinsamen Unterhalt bei – unter anderem in der Paramentenstickerei.

Das zufriedene Leben in Zell wurde durch die beiden Weltkriege zwei Mal jäh unterbrochen. 1943 etwa wurden hier eine Außenstelle des städtischen Krankenhauses in Nürnberg mit einer chirurgischen Abteilung errichtet und insgesamt 2200 Patienten gepflegt.

Am 1. April 1946 nahm die Taubstummenschule ihren Betrieb wieder auf, nachdem die Militäradministration die Erlaubnis dazu gegeben hatte. Noch lange hing der Geruch von Desinfektionsmitteln in den Klassenzimmern, in denen bis zum Schulhausneubau 1981 weiß lackierte Krankenhausschränke standen.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich in Zell bei Regens Wagner sehr viel getan. Nach ihrem Sozialpädagogikstudium verschlug es die damals junge Gerda Friedel nach Zell, sie kannte die Einrichtung von einem Praxissemester. Und es wurde schnell deutlich, dass ihr Fachwissen als Pädagogin gebraucht wurde. „Es war fünf nach zwölf, Zell stand wirtschaftlich schlecht da“, erinnert sich die Ordensfrau. Es ging nun darum, die Einrichtung auf Vordermann zu bringen: pädagogisch, räumlich und finanziell. „Es war den Schwestern klar, dass sie es ohne Hilfe von außen nicht mehr schaffen“, erklärte Schwester Gerda.

„Als ich kam, gab es hier 36 Schwestern und 10 weltliche Mitarbeiter, die sich um 160 Menschen mit Hörbehinderung kümmerten“, erzählt Schwester Gerda. Heute leben in Zell nur noch fünf Ordensschwestern und insgesamt 650 Mitarbeiter sind an vier Standorten für 450 mehrfach behinderte Menschen mit Hörschädigung zuständig.

„Wir haben uns zu einem Spezialanbieter für Menschen mit Hörschädigung in Deutschland entwickelt“, blickt die Ordensfrau zufrieden zurück. „Damit haben wir ein Alleinstellungsmerkmal. Und die Menschen kommen gerne hierher.“ Die Zeller Werkstätten beispielsweise seien eine von bundesweit zwei Einrichtungen, die sich auf Hörgeschädigte spezialisiert hätten. Alle Mitarbeiter beherrschen die Gebärdensprache, was für die Beschäftigten sehr wichtig sei.

Rein räumlich lässt sich messen, wie viel in Zell passiert ist. Fast jedes Jahr hat Schwester Gerda eine neue Baustelle betreut: insgesamt 33 Neubauten in Zell, Heideck, Hilpoltstein und Nürnberg – angefangen vom Bau der Schule für lernbehinderte, gehörlose Kinder Anfang der 1980er Jahre über den Bau der Zeller Werkstätten 1989 bis hin zum Bezug der Nürnberger Werkstätten mit 60 Plätzen, der neuen Appartmentanlage in Hilpoltstein sowie des Reittherapiezentrums in Zell in diesem Jahr. Einer der Meilensteine war wohl der Bau der ersten Außenwohngruppe vor 30 Jahren, als noch kaum jemand von Inklusion sprach. „Für damalige Verhältnisse war das ein Quantensprung“, sagt Schwester Gerda. Die vielen Baustellen hätten auch Argwohn erregt. Die müssen ja Geld haben in Zell, habe es geheißen. „Aber wir bekommen nicht mehr als andere auch, da ist einfach solides Wirtschaften gefragt.“

Jetzt verlässt sie Zell und damit ihre Heimat, da sie zur Provinzoberin nach Dillingen berufen wurde. „Ich weiß aber, dass die Einrichtung in vielen guten Händen ist.“ So ganz loslassen wird Schwester Gerda trotzdem nicht. In ihrer neuen Funktion ist sie Mitglied im Stiftungsrat, dem obersten Gremium bei Regens Wagner. Dort werden alle großen Entscheidungen geregelt. Schwester Gerda freut sich über diese Konstellation: „Auch in Zukunft bin ich also in die Entwicklung von Zell involviert.“