Geschundenes Geschöpf

15.12.2009 | Stand 03.12.2020, 4:24 Uhr

Allersberg/Nürnberg (HK) Freispruch aus Mangel an Beweisen: Weil die 2. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth erhebliche Zweifel hatte, sprach sie gestern einen 28-jährigen Allersberger vom Vorwurf frei, er habe seine 17-jährige Halbschwester vergewaltigt.

"Sie sind nicht freigesprochen, weil wir von Ihrer Unschuld überzeugt sind", sagte der Vorsitzende Richter Günther Heydner. "Wir konnten die Schuld aber nicht nachweisen." Man gehe aber nicht davon aus, dass das Opfer, die 17-jährige Halbschwester, deswegen die Unwahrheit gesagt habe, so der Richter in seiner Urteilsbegründung. "Nur, wir können das nicht ausschließen."

Immer wieder hatte das Opfer, das nicht im Gerichtssaal erschienen war, im Laufe des Verfahrens andere Hergänge der Tat zu Protokoll gegeben oder konnte sich zum Teil nicht mehr an Details erinnern. "Wir kommen über diese mangelhafte Konstanz nicht hinweg", sagte Richter Heydner. Staatsanwalt Roland Fleury hatte fünf Jahre Haft gefordert. Er stufte die Aussagen des Opfers, das allgemein als einfach strukturiert beschrieben wurde, als insgesamt glaubwürdig ein. "Es ist keine auswendig gelernte Geschichte."

"Nichts getan"

Der Angeklagte, ein kräftiger Mann mit kurzen Haaren, bestritt die Tat bis zum Schluss. "Ich kann nur nochmal sagen, dass ich ihr nichts getan habe. Wenn’s so gewesen wäre, hätte ich es zugegeben. Auch, damit sie zur Ruhe kommt", sagte er in seinem Schlusswort. Während der Verhandlung wirkte er sehr angespannt. Er war zwei Monate in Untersuchungshaft gesessen.

Das Opfer hatte ausgesagt, es sei in der Nacht von Faschingsdienstag auf Aschermittwoch von ihrem 28-jährigen Halbbruder im Schlafzimmer von dessen Wohnung in Allersberg vergewaltigt worden, während nebenan im Wohnzimmer ihre Schwester auf dem Sofa schlief und deren Mann vor dem Fernseher saß. Der Angeklagte, die Schwester und ihr Mann hatten zuvor einige Bier getrunken und zu dritt eine Flasche Jägermeister geleert, das Opfer hatte nach eigenen Angaben nichts getrunken. Die Vergewaltigung, so es eine war, war der erste Geschlechtsverkehr der 17-Jährigen.

Martyrium in der Familie

Die 17-Jährige habe sich damals über das Treffen mit ihrem Halbbruder gefreut, erzählt ihre Anwältin Andrea Kühne. Schließlich sei da gerade ihre Familie auseinandergebrochen, ihr Vater und ihre Stiefmutter standen vor Gericht. Sie hatten das Mädchen gemeinsam schwer misshandelt. Sie musste vor einem heißen Ofen stehen und wurde von ihrem Vater geohrfeigt, wenn sie fliehen wollte. Bei dieser Folter erlitt sie schwere Verbrennungen an den Beinen. Ihr Vater wurde wegen dieser Misshandlung im Mai diesen Jahres zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, gegen die Stiefmutter wird heute erneut verhandelt.

Die Tat war aufgefallen, weil das Opfer wegen der Brandwunden in der Schule nicht mehr sitzen konnte, angezeigt hatte das Mädchen ihren Vater nicht. Auch das Verfahren gegen ihren Halbbruder kam erst in Gang, als ein Betreuer im Heim ihr Tagebuch auf dem Fenstersims fand und darin die Geschichte von der Vergewaltigung las. Es war allerdings die einzige Geschichte in diesem Heft. Und auch in dieser Version stand eine Unwahrheit. Man sei zusammen zur Wohnung des Angeklagten gelaufen, hatte das Opfer dort geschrieben. Tatsächlich ist man mit dem Roller gefahren. Das habe sie nicht schreiben wollen, weil es ihren Schwager belastet hätte, sagte die 17-Jährige später vor Gericht aus.

Warum sie das tat, wenn sie laut eigenen Angaben nicht damit rechnete, dass jemand das Tagebuch lesen würde, ist eine der Ungereimtheiten in diesem Prozess, die am Ende zu dem Freispruch führen. Warum sie sich nicht lautstark gewehrt hat, kam dem Gericht sonderbar vor. "Sie hat nicht geschrien", sagte Heydner. Sonderbar fand er auch, dass die 17-Jährige gut zehn Tage nach der angeblichen Vergewaltigung zur Frauenärztin gegangen war und sich die Antibabypille verschreiben ließ. Nur zwei Monate später wurde sie dann schwanger – gewollt, so ihre Anwältin Andrea Kühne. "Das ist zumindest sehr außergewöhnlich", sagte Richter Heydner. Oft seien Frauen nach Vergewaltigungen traumatisiert und hätten lange keinen Geschlechtsverkehr mehr.

Eindringliche Mahnung

Auch wenn der Richter Zweifel an manchen Aussagen der 17-Jährigen hatte, stand für ihn fest: "Es ist ein äußerst bedauernswertes Geschöpf, dem Liebe und Zuneigung verweigert wurden." Den Angeklagten ermahnte Heydner eindringlich: "Sehen Sie dieses Urteil nicht als Zeichen." Sollte er die Vergewaltigung tatsächlich begangen haben – und dafür spreche sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit – könnte es beim nächsten Mal ganz anders ausgehen. "Die Tat ist durchaus fünf Jahre wert."