Hilpoltstein
"Ein riesen Arbeitgeber"

Früherer Werkleiter erinnert sich an die Anfänge des Klingele-Werks

19.04.2018 | Stand 23.09.2023, 2:57 Uhr
  −Foto: Fotos: Kofer, Krauß

Hilpoltstein (HK) 1968 war das Klingele-Werk noch wesentlich kleiner als heute, beschäftigte aber fast doppelt so viele Menschen. Der spätere Werkleiter Otto Krauß erinnert sich an die Anfänge.

Ich war damals ja nur ein kleines Würstchen", sagt Otto Krauß. Damals, das war 1961, als die Firma Klingele ihr Papierwerk in der Hilpoltsteiner Industriestraße eröffnete. Es war erst das dritte. Zur Einweihung ist Bundespostminister Richard Stücklen gekommen, dazu der Regierungspräsident von Mittelfranken samt seiner Führungsmannschaft. Otto Krauß - heute 79 Jahre alt - hat ein Fotoalbum davon. Die Politprominenz im dunklen Anzug spaziert durch die Werkshallen und schaut den Arbeiterinnen in Kittelschürzen und Hausschlappen zu, wie sie an einfachen Maschinen Kartons heften und kleben. Im Hintergrund ragen die Stapel mit Wellpappe auf. "Vieles war noch Handarbeit", sagt Krauß. "Wir haben zum Beispiel zweiteilige Spezialkartons für Schokoladenhersteller gemacht, die ließen sich nicht maschinell herstellen." Die Stanzmaschinen waren so groß wie ein Schreibtisch und wurden meist von einer Frau bedient. Heute sind solche Maschinen bis zu 60 Meter lang und vollautomatisch. "Die Maschinen sind nicht mehr vergleichbar, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht."

Am 1. Januar 1960 war Otto Krauß, von 1986 bis 2003 Werksleiter, gerade frisch nach Hilpoltstein gekommen. Sein Büro lag damals noch im angemieteten Erdgeschoss der Firma Wenker - heute Küchen-Huber am Altstadtring. Die Büroräume auf dem Werksgelände wurden erst später fertig. Freie Handelsvertreter brachten die Anfragen von Kunden, "wir haben Preise kalkuliert und das Angebot verfolgt, damit wir den Auftrag auch kriegen", sagt Krauß. Kalkuliert wurde noch mit einer einfachen Rechenmaschine. Mit Reitern hat man die Zahlen von 0 bis 9 eingegeben und dann mit einer Handkurbel multipliziert. "Mal zwölf, da hat man dann zwölfmal gedreht", erinnert sich Krauß und macht die Drehbewegungen nach.

Zu den Kunden zählten Lebkuchen-Schmidt in Nürnberg, die Porzellanmanufakturen in Selb, Weiden und Marktredwitz und der Rundfunkpionier Grundig in Fürth. Die Großkunden hat Otto Krauß persönlich besucht. Mit dem VW Käfer als Dienstwagen ist er zum Porzellanhersteller Rosenthal und Grundig gefahren. "Ich habe Max Grundig noch persönlich kennengelernt", erzählt er schmunzelnd. Klingele produzierte Kartons für Grundig-Fernseher und Otto Krauß saß im Büro des Verkaufsleiters in Fürth, als Max Grundig hereinkam und mit Blick auf Krauß seinen Mitarbeiter fragte: "Was macht der junge Mann da?" Die Antwort: Unsere Verpackungen. Darauf Grundig: "Ach so."

Das Klingele-Werk in Hilpoltstein wuchs schnell. Den Standort hatte Firmenchef Werner F. Klingele mit Bedacht ausgewählt. Die Stadt liegt relativ zentral in Bayern, nahe an der Autobahn und bietet in den 1960er-Jahren ein großes Potenzial an Arbeitskräften. Vor allem aus der Landwirtschaft strömten die Menschen in die Industrie, wo man sein Geld leichter verdienen konnte. "Vom Feld weg kamen die Leute zu Klingele", erinnert sich Krauß. Der Heidecker Busunternehmer Pachelbel hat die Leute aus den Dörfern eingesammelt und ins Werk gefahren.

Gearbeitet wurde im Zwei-Schicht-Betrieb. Zu den Hochzeiten in den 70er-Jahren beschäftigte Klingele 350 Mitarbeiter. 750 Tonnen Papier wurden damals im Durchschnitt pro Monat zu Kartonagen verarbeitet. Heute verarbeiten noch knapp 200 Beschäftigte 5800 Tonnen im Monat. "Die Rationalisierung war nötig, sonst wären wir nicht konkurrenzfähig gewesen", sagt Krauß. Der eigene Fuhrpark samt Fahrerflotte zum Beispiel wurde mit den Jahren einfach zu teuer. Die Lastwagen lieferten zwar die fertige Ware aus, kamen aber ohne Rückfracht zurück ins Werk. "Das ist Unsinn gewesen", sagt Krauß. Außerdem ist die Spedition Greiner zusammen mit Klingele nach Hilpoltstein gekommen. Der Spediteur arbeitete schon mit dem Klingele-Stammwerk in Grunbach bei Stuttgart zusammen, es gab sogar familiäre Bande zwischen den Firmenbesitzern. Und so übernahm Greiner mehr und mehr das Fuhrgeschäft. "Wir hatten auch eine eigene Schlosserei, eine Schreinerei, eine Elektrowerkstatt, einen eigenen Maler und einen Busfahrer", erzählt Otto Krauß. Bis auf die Elektrowerkstatt ist das alles Geschichte.

Trotzdem bleibt Klingele der größte industrielle Arbeitgeber in der Stadt. "Ein riesen Arbeitgeber", sagt Krauß. Und die Firma bot vielen jungen Leuten eine Chance. "Ausbildung hatte immer einen hohen Stellenwert im Hause Klingele", sagt Krauß. Noch als Vertriebsmitarbeiter hat Krauß oft die Lehrlinge am Montag ins Stammwerk chauffiert und am Freitag wieder abgeholt. "Zu fünft im Käfer - mit Gepäck", sagt er und lacht. "Es war eine interessante, aber harte Zeit. "Wir waren lauter junge Leute, 200 Kilometer weg von der Heimat, das war damals nicht alltäglich."

Otto Krauß wohnte unter der Woche in einem kleinen Zimmer in Hilpoltstein, erst 1964 kamen seine Frau und die Kinder aus Forchheim nach und zogen ins erste eigene Haus. Auch ehrenamtlich engagierte sich Krauß immer mehr in der Stadt. 1963 schrieb der begeisterte Kletterer und Marathonläufer sein erstes Sitzungsprotokoll für den TV Hilpoltstein - "als Ersatzschriftführer", wie er sagt. Das "Ersatz" wurde bald gestrichen. "Später musste ich sogar den Vorsitz übernehmen." Als seine Kinder in die Schule kamen, wurde Otto Krauß Elternbeiratsvorsitzender, erst in der Grundschule, dann im Gymnasium. Von 1972 bis 1978 saß er für die CSU im Stadtrat. Eine Laufbahn, die auch sein Nachfolger Bernhard Harrer einschlug. "Einem Klingele-Werksleiter wird unterstellt, dass der das kann", sagt Krauß. Gedrängt habe er sich nie nach den Ehrenämtern. Sein Stadtratsmandat gab er dann auch auf Anraten seines Firmenchefs ab. Die Doppelbelastung wäre zu groß gewesen. Denn Otto Krauß machte bei Klingele Karriere. Vom Vertriebsleiter stieg er zum Prokuristen mit Vollmacht auf, dann zum stellvertretenden Werksleiter, 1986 wurde er Werksleiter.

Seit den Anfängen hat sich inzwischen viel verändert auf dem Werksgelände, auch wenn die Grundstruktur von 1968 geblieben ist", wie Otto Krauß beim Blick auf unser Luftbild sagt. Inzwischen ist das Gelände fast doppelt so groß und reicht viel weiter nach Hofstetten als damals. Der breite Weg, der rechts auf dem Luftbild zu sehen ist, ist ebenso verschwunden wie die Bahngleise zum Werk. Damals wurden die schweren Papierwalzen noch mit der Bahn angeliefert, heute verläuft hier der Gredl-Radweg. Der Rohstoff wird per Lastwagen angeliefert. "Es ist unglaublich, was heute mit dem Lkw angekarrt werden muss", sagt Otto Krauß.

Geblieben ist der Hubschrauberlandeplatz auf dem Werksgelände. "Dr. Klingele Senior hatte einen Pilotenschein und einen Hubschrauber. Er flog regelmäßig seine Werke an und brachte die frohen Botschaften", erzählt Krauß mit einem Schuss Ironie. Wenn der Werksleiter investieren wollte, musste er die Ausgaben gut begründen und auch das Geld dafür erwirtschaften. Außerdem hat der Seniorchef einmal im Jahr die Zahlen des Betriebs überprüft, oft in einer erstaunlichen Tiefe. "Er ließ sich sogar die einzelnen Belege vorlegen", erinnert sich Krauß. "Und man war gut beraten, keinen Unsinn zu erzählen." Bei einer der Prüfungen sei dem Firmenchef ein Beleg mit dem Titel "Pistole" aufgefallen. "Wozu brauchen Sie eine Pistole?", wollte er von Krauß wissen. Der wusste es auch nicht, fragte aber bei seinem Einkaufsleiter Karlheinz Heumann nach. Der klärte schließlich das Missverständnis auf: Es handelte sich um eine Klebepistole.

Robert Kofer