Eckersmühlen
"Ich würde mich schämen, als deutscher Soldat"

Feldpostserie: Der berüchtigte Eckersmühlener Dorflehrer Gustav Leis beschimpft einen Frontsoldaten auf Heimaturlaub

18.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:38 Uhr

Unangenehme Wahrheiten über den Ersten Weltkrieg berichtete Leonhard Kühnlein (hier auf einer Feldpostkarte, Mitte) auf seinem Ernteurlaub 1917 in Eckersmühlen. Sein Vater, Schreinermeister Jakob Kühnlein (re.), hatte die Freistellung beantragt. - Fotos: Bildnachlass Fritz Schäff

Eckersmühlen (HK) Der berüchtigte Eckersmühlener Dorflehrer Gustav Leis, bekannt für seine Misshandlungen von Schülern, trat 1917 auch als Stammtischstratege auf. Und das in übelster Weise. Er beleidigte den Eckersmühlener Unteroffizier Leonhard Kühnlein und drohte dessen Vater mit der Denunziation, sollte der Sohn weiter die Wahrheit von der Front erzählen.

Eckersmühlen (HK) Der berüchtigte Eckersmühlener Dorflehrer Gustav Leis, bekannt für seine Misshandlungen von Schülern, trat 1917 auch als Stammtischstratege auf. Und das in übelster Weise. Er beleidigte den Eckersmühlener Unteroffizier Leonhard Kühnlein und drohte dessen Vater mit der Denunziation, sollte der Sohn auf Heimaturlaub weiter die Wahrheit von der Front erzählen.

Der Schreinermeister Jakob Kühnlein hatte im September 1917 erfolgreich einen Freistellungsantrag für seinen 18-jährigen Sohn Leonhard an das in Fürth stationierte Königlich bayerische 6. Feldartillerieregiment gestellt. Leonhard, als Unteroffizier an der Westfront, erhielt den gewünschten Ernteurlaub. Doch Leonhard Kühnlein half nicht nur dem Vater auf dem Feld, er ging am Abend auch ins Wirtshaus. Und erzählte dort unverblümt von der Wahrheit an der Front.

Dies stieß dem Dorfschullehrer Gustav Leis wohl so dermaßen auf, dass er - obwohl niemals selbst im Krieg - einen Brief mit unverhüllter Drohung an den alten Schreinermeister Kühnlein verfasste. Die Geschichte erinnert an Erich Maria Remarques Antikriegsroman "Im Westen nichts Neues", in dem der Lehrer Paul Bäumer mit flammenden Reden eine ganze Schulklasse in den Krieg treibt und dann einen ehemaligen Schüler als Feigling tituliert, als dieser vor der Klasse von der Front erzählt.

"Werter Herr Kühnlein!

Wollen Sie getulichst nachfolgendes zur Kenntnis nehmen:

Wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, erregt Ihr zur Zeit auf Urlaub befindlicher Sohn die hiesige Einwohnerschaft in höchster Weise durch seine übertriebenen Kriegserlebnisse, die er in Wirtschaften zum Besten gibt. Was er erzählt, hat er ja gar nicht alles selbst erlebt, sondern ist größtenteils Nachgesagtes; was man aber vom Hörensagen weiß, ist nach einem Sprichwort, €šhalb gelogen'. Aber selbst wenn alles wahr wäre, würde ich als Soldat u. Mann, noch dazu als Unteroffizier, derartige Erzählungen unterlassen. Geradezu unverantwortlich ist es aber, wenn er behauptet: €šAlles was wir erobert haben, würde uns wieder abgenommen, ja die Feinde kämen noch in unser Land.'

Was die Zukunft bringt, weiß er absolut nicht, so wenig wie wir; darüber soll er ruhig seinen Mund halten; ein solches Gewäsch überlässt man höchstens alten Weibern; ich würde mich schämen, als deutscher Soldat so erbärmlich mutlos zu reden. Würde die Heeresleitung erfahren, in welcher Weise ihr Sohn zu Hause im Urlaub redet u. die Leute aufregt, es hätte für ihn allerschlimmste Folgen. Sollte ich in dieser Beziehung noch etwas hören, so wäre ich gezwungen in energischster Weise einzutreten.

Das ist meine vaterländische Pflicht. Bitte dies Ihrem Sohn mitzuteilen.

Ihr wohlmeinender G. Leis

P.S.: Da Ihr Sohn sonst einen guten Eindruck macht, will ich vorläufig von der Sache schweigen, er möge aber künftig vernünftiger sein."

Dabei sind die Einschätzungen von Leonhard Kühnlein - sofern es richtig ist, was Leis vom Hörensagen schreibt - äußerst realistisch und keineswegs "erbärmlich" und "mutlos" oder ein "Gewäsch alter Weiber". Im Gegenteil: Leonhard Kühnlein schätzte die Lage Deutschlands schon ein Jahr vor Kriegsende richtig ein. Der Schreinersohn aus dem kleinen fränkischen Dorf war weitsichtiger als alle verantwortlichen Politiker und Militärs seinerzeit. Die weigerten sich die Wahrheiten offen auszusprechen, über die Leonhard Kühnlein abends im Wirtshaus berichtete.

Das Kriegsjahr 1917 war im Westen geprägt vom Rückzug der deutschen Truppen im Frontabschnitt zwischen Arras und Soissons auf den Frontbogen Arras - St. Quentin, der sogenannten Siegfried-Linie. Das "Unternehmen Alberich" dauerte vom 4. Februar bis zum März und hatte den Zweck, Divisionen aus der verkürzten Front herauszulösen und diese dann im rückwärtigen Gebiet aufzufüllen und als Reserven für spätere Offensiven zur Verfügung zu haben.

Durch die vorzeitige Einberufung des Jahrgangs 1899 und Neugliederung von bestehenden Truppenteilen konnten zwanzig weitere zusätzliche Divisionen im Westen aufgestellt werden. Das war aber nur möglich, weil die Tauglichkeitsanforderungen herabgesetzt und die Ausbildungszeit drastisch verkürzt wurden. Diese Mängel waren alleine durch Masse nicht zu beheben. Zudem blieben die alliierten Mächte auf allen Kriegsschauplätzen den Mittelmächten an Truppenstärke und Ausrüstung überlegen.

Das bayerische Feldartillerieregiment 6 von Leonard Kühnlein war ausschließlich an der Westfront eingesetzt. Es nahm an den Kämpfen in der Champagne im Herbst 1915, an der Somme im September 1916, an der Schlacht von Arras im April 1917 und an den Stellungskämpfen in Flandern und im Artios bis August/September 1917 teil.

Nach Kriegsende 1918 marschierten die Überlebenden des Regiments in die Garnison nach Fürth zurück, wo ab dem 6. Januar 1919 die Demobilisierung und im Februar 1919 die Auflösung erfolgte und die Soldaten, sofern sie sich nicht der Freiwilligen-Batterie Schleip anschlossen, aus der das spätere Artillerie-Regiment 21 der Reichswehr hervorging, in ihre Heimatorte zurückkehrten.

Leonhard Kühnlein, geboren am 19. Dezember 1898, überlebte den Ersten Weltkrieg, kehrte spätestens nach der Auflösung seiner Einheit im Februar 1919 zurück und starb schließlich am 1. August 1965 in Eckersmühlen.