Auf das "krankende Gesundheitssystem" aufmerksam machen

17.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:38 Uhr

Zum Leserbrief "Pflege: Eine tragende Berufssäule wird außer Acht gelassen (EK vom 12. Februar 2017):

Leider muss ich meiner Berufskollegin Annika Spies in allen Punkten recht geben. Die Pflege, also die Menschen, die an der Basis arbeiten, werden nur allzu oft außer Acht gelassen. Dabei sind wir die Berufsgruppe im Gesundheitswesen, die 24 Stunden täglich, 52 Wochen und 365 Tage im Jahr für unsere Patienten da ist. Sozusagen: Jeder Augenblick ist Pflege.

Ich habe 1985 mein Examen zur Krankenschwester gemacht und habe die zunehmenden Veränderungen, die steigenden Anforderungen "live" erlebt. Die Medizin hat sich rasant entwickelt: hin zu einer modernen, hochtechnisierten Apparatemedizin. Dementsprechend haben sich die Ansprüche an die Pflege enorm gesteigert. Unsere Aufgaben sind vielfältiger, anspruchsvoller und verantwortungsvoller geworden.

Demgegenüber steht ein Fachkräftemangel, dessen Auswüchse für die Zukunft heute noch nicht absehbar sind. Wir müssen schon längst mit immer weniger qualifiziertem Personal immer mehr Arbeit leisten.

Auch hat sich die Patientenklientel verändert. Der Mensch wird immer älter, leidet oft an mehreren Krankheiten gleichzeitig (Multimorbidität). Dementsprechend steigt der Pflegebedarf. Auch verwirrte, demente Patienten haben einen erhöhten Pflegebedarf. Zu allem Überfluss hat sich die Dokumentationszeit mindestens verdoppelt - Zeit, die am und mit dem Patienten fehlt.

Mit Ruhe, Geduld, Einfühlungsvermögen zu arbeiten, gelingt nur mit Zeit. Schnelligkeit, Hektik sind am Krankenbett fehl am Platz. Unser Pflegealltag ist leider von Hektik und Zeitmangel geprägt - wir müssen ständig Abstriche machen. Dies geschieht nur auf Kosten der Pflegequalität, auf Kosten der im Pflegeberuf arbeitenden Menschen, und nicht zuletzt auf Kosten der Patienten. Den Ansprüchen, die eine wirklich gute Pflege ausmachen, können wir mit dem derzeitigen Personalstand nicht genügen. Wir möchten eine menschenwürdige, qualitativ hochwertige, ganzheitliche, fürsorgliche und professionelle Pflege durchführen. Denn wir fühlen uns den uns anvertrauten Menschen verpflichtet.

Leider liegt eine riesige Kluft zwischen unseren Ansprüchen und der Realität. Viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten am Limit ihrer physischen und psychischen Leistungsgrenzen. Die Attraktivität des Pflegeberufes, die Gewichtung, die unsere Arbeit besitzt, muss wieder mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gestellt werden. Denn unser Beruf ist ein sehr anspruchsvoller, abwechslungsreicher und erfüllender Beruf. Dies sollte in der Gesellschaft mehr Anerkennung und Beachtung finden. Ich würde mir mehr Schwestern und Pfleger wie Frau Spies wünschen, die engagiert und mutig für Veränderungen in unserem Berufsalltag kämpfen. Wir müssen als Berufsgruppe präsenter werden, mehr auf das "krankende Gesundheitssystem" und unsere Anliegen aufmerksam machen, damit auch endlich mal die Politik adäquat reagiert.

Ich hoffe, dass es auch in Zukunft viele junge Menschen geben wird, die diesen Beruf ergreifen. Und dass ich, wenn ich Pflege brauche, auch in den Genuss von menschlicher Zuwendung, Verständnis, Mitgefühl, Hilfe und Motivation kommen werde. So wie ich und meine Kolleginnen/Kollegen es trotz und alledem tagtäglich zu geben versuchen.

Birgit Noll

Kipfenberg