Heute
"Sprachen öffnen Türen"

20.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:37 Uhr

Beschäftigt sich intensiv mit Sprachen: KU-Dozentin Monika Raml. - Foto: Schneider

Heute ist „Tag der Muttersprache“. Im Interview zu diesem Tag spricht Dr. Monika Raml von der Katholischen Universität darüber, wie Dialekt und Erstsprache zusammenhängen, wie beides zur Integration beitragen kann und wie sie sich verändern.; H2 danach: Tag der Muttersprache; Text: Auf Vorschlag der Unesco haben die Vereinten Nationen den 21. Februar als Internationalen Tag der Muttersprache ausgerufen. Er wird seit 2000 jährlich begangen. Von den rund 6000 Sprachen, die heute weltweit gesprochen werden, ist nach Einschätzung der Unesco die Hälfte vom Verschwinden bedroht.
Sprachliche und kulturelle Vielfalt repräsentieren universelle Werte, die Einheit und Zusammenhalt einer Gesellschaft stärken. Der Internationale Tag der Muttersprache erinnert an die Bedeutung des Kulturgutes Sprache. Er soll die Sprachenvielfalt und den Gebrauch der Muttersprache fördern und das Bewusstsein für sprachliche und kulturelle Traditionen stärken.

Historisch nimmt der Tag der Muttersprache Bezug auf den 21. Februar 1952. Damals fand in Dhaka, der Hauptstadt des damaligen Ost-Pakistan, eine Demonstration gegen den Beschluss der Regierung statt, die Sprache Urdu zur Amtssprache zu erheben. Urdu war die Sprache der herrschenden Schichten in Pakistan und die Sprache der Muslim-Liga, auf deren Betreiben der Staat Pakistan gegründet wurde. Urdu wurde nur von etwa drei Prozent der Bevölkerung gesprochen, während über 56 Prozent der Gesamtbevölkerung West- und Ost-Pakistans Bengali (Bangla) als Muttersprache pflegten. In Ost-Bengalen, dem damaligen Ost-Pakistan, lag der Anteil sogar bei 98 Prozent. 1971 erklärte Ost-Bengalen nach neunmonatigem Bürgerkrieg seine Unabhängigkeit von Pakistan, Landessprache im neuen Staat Bangladesch war fortan Bengali.
Im September gibt es noch den „Europäischen Tag der Sprachen“, der die Förderung der Mehrsprachigkeit zum Ziel hat.

Frau Raml, sagen Sie eigentlich "Tschüss"?

Monika Raml: Das sage ich bewusst nicht. Ich nutze lieber "ciao", weil ich Verwandte in Italien habe. Sonst sage ich eher "Servus" oder "Pfiadi".

 

Warum verzichten Sie auf diese Floskel?

Raml: Es ist nicht mein Dialekt und auch nicht meine umgangssprachliche Ausdrucksweise. Ich würde aber niemals kritisieren, wenn ein Schüler, der aus dem entsprechenden dialektalen Hintergrund kommt, "Tschüss" sagt, oder ihm vorschreiben, meinen Dialekt zu nutzen. Ich freue mich, wenn gegrüßt wird.

 

Der heutige "Tag der Muttersprache" wird in einem Internetportal als "kurioser Feiertag" gesehen, woanders läuft er gar im "Heiligenlexikon".

Raml (lacht): Es gibt viele weit kuriosere Gedenktage. Ich würde es aber nicht überhöhen, dass er gar religiöse Bedeutung hat. Im Gegenteil: Der Tag der Muttersprache ist alltags- und praxisbezogen. Ich finde es gut, dass es eine Erinnerung gibt, dass man sich mit Sprache beschäftigt ... nicht nur mit Dialekt und der eigenen Sprache. Man kann hier auch mal schauen, wie denn die Muttersprachen in meiner Umgebung sind und sich vielleicht im Dialog darüber austauschen.

 

Gehört der Dialekt zur Muttersprache?

Raml: Wenn jemand aus einem dialektalen Umfeld kommt, also in der Familie als Erstsprache Dialekt lernt, gehört dieser zu seinem Sprachenportfolio. Dann kann der Dialekt auch wirklich die €šMuttersprache' sein. Das Standarddeutsche wird vielleicht erst im Kindergarten oder durch andere Kontakte, spätestens aber in der Schule erworben.

 

Wie wichtig ist die Muttersprache?

Raml: Ich bin überzeugt, dass die Muttersprache gerade in einer globalen Welt absolut identitätsbildend ist. Durch sie kann man sich verorten.

 

Wenn die Muttersprache identitätsbildend ist: Kann man sie verlernen oder verlieren?

Raml: Die "Erstsprache" oder "heritage language", wie sie in der Sprachwissenschaft genannt wird, ist nicht zwangsläufig die Sprache, die man am besten beherrscht und am häufigsten spricht. Aber sie ist für die Sprachbiografie als €šSprache des kulturellen Erbes' dauerhaft prägend. Trotzdem kann es sein, wenn Sie 30, 40 oder 50 Jahre ständig eine andere Umgebungssprache pflegen, dass Sie gewisse Aspekte Ihrer Muttersprache vergessen.

 

Kann man Kindern einen Dialekt sagen wir "mit Gewalt" aneignen, wie derzeit etwa in München mit Kindergartenkursen versucht wird, den Kleinen Bairisch zu lernen?

Raml: Es gibt Dialektpfleger, die den Dialekt konservieren wollen. Sprachwissenschaftler wollen ihn untersuchen und akzeptieren zugleich, dass sich Sprache verändert. Man kann sie nicht in einem bestimmten Status fixieren. Ich halte viel davon, wenn man sich über den Dialekt mit Schülern oder anderen Lernern unterhält. Aber ich meine nicht, dass es sinnvoll ist, Dialektkurse als Sprachkurse anzubieten. Das wirkt aufgesetzt und eher als Parodie oder Anbiederung. Ein Dialekt wird für nicht aus einer Region stammende Sprecher als produktives Kommunikationsmittel immer etwas Fremdes bleiben.

 

Kann Sprache und Dialekt zur Integration beitragen?

Raml: Wie gesagt: Dialekt hat einerseits identitätsstiftende Wirkung für seine Sprecher, aber auch etwas Ausgrenzendes. Nehmen wir an, Deutsch-als-Fremdsprache-Lerner kommen in eine Gegend, die sehr stark dialektal geprägt ist. Dann kann es sinnvoll sein, beim Deutschlernen die Zusatzinfo im jeweiligen Dialekt zu geben. Vor allem muss man aber dafür sorgen, dass sich die Neuankömmlinge möglichst mit allen verständigen können. Dazu muss man sie zuerst umgehend mit der Sprache ausstatten, die sie dazu überregional befähigt: Das ist das Standarddeutsche. Der Dialekt ist kein Ersatz, sondern Ergänzung. Beispiel: Wenn ein Schüler zweisprachig aufwächst und zusätzlich noch den Dialekt seiner Region beherrscht, hilft das bei der Integration - er wird als €šeiner von uns' wahrgenommen.

 

Warum fällt es vielen so schwer, noch weitere Sprachen zu erlernen?

Raml: Es gibt schon eine gewisse Disposition. Die einen können sich besser mit Technik und Zahlen auseinandersetzen, die anderen sind musisch veranlagt, und wieder andere können eben leicht Sprachen lernen. Aber es gibt ausgeklügelte didaktische Methoden und auch Medienunterstützung, so dass jeder die Möglichkeit hat, bis zu einem gewissen Grad Sprachen zu erlernen. Vielleicht nicht in Perfektion, aber um sich zumindest verständigen und verstehen zu können. Allerdings gibt es sensible Zeitfenster, in denen man Sprachen auf Muttersprachniveau erlernen kann.

 

Die da wären?

Raml: Zwischen drei bis höchstens sechs Jahre kann man eine Sprache mit akzentfreier Aussprache erlernen. Ein intuitiver Grammatik-Zugang ist bis zur Pubertät möglich. Für den Wortschatz ist das Fenster am längsten offen.

 

Sie halten morgen in Ingolstadt einen Vortrag über äußere und innere Mehrsprachigkeit. Das müssen Sie erklären.

Raml: Die innere Mehrsprachigkeit ist alles, was man innerhalb einer Erstsprache an Ausdrucksformen zur Verfügung hat - also Dialekt, Umgangssprache, Stilebenen ... Die äußere Mehrsprachigkeit ist das, was wir landläufig als €šmehrsprachig' bezeichnen - also mehrere Nationalsprachen als Erst-, Zweit- oder Fremdsprachen zu beherrschen.


Sie wollen bei diesem Vortrag Räume für Mehrsprachigkeit definieren.

Raml: Man muss fragen, wo Mehrsprachigkeit öffentlich eine Rolle spielt: bei Behörden, Institutionen, Geschäften. Da sieht man, dass wir in unserer Region - abgesehen von der Werbung, dem Tourismus und der Gastronomie - uns relativ monolingual geben. Leider, muss man sagen. Man verlässt sich darauf, dass jeder Deutsch kann. Institutionell muss man aber Räume für Mehrsprachigkeit schaffen, da wir auf individueller Ebene viele Mehrsprachige um uns haben.

 

Nennen Sie ein Beispiel.

Raml: In der Schule muss man dafür sorgen, dass ein bilingualer Schüler seine Sprachen entwickeln und einbringen kann. Man muss Räume für die typischen Migrationssprachen im schulischen Kontext schaffen. Es gibt offensichtlich ein Prestige-Gefälle: Sprachen, die man im schulischen Fremdsprachenkanon lernt - Englisch, Französisch, Spanisch - sind anerkannt. Was ist mit türkisch-, polnisch- oder tschechischsprachigen Schülern? Das müssen wir genauso wertschätzen. Sprachen sind Brückenbauer, Sprachen öffnen Türen. Da stehen Kulturen dahinter: Der Einzelne kann Mehrsprachigkeit für seine Karriere nutzen. Und die Gesellschaft kann nicht darauf verzichten - das ist eine unglaubliche kulturelle und ökonomische Ressource, die man nicht brachliegen lassen darf.

 

Wie schaut unsere Sprache in 20 Jahren aus?

Raml: Wenn man den Dialekt anschaut: Es geht weg von Ortsmundarten hin zu regionalen Umgangssprachen - durch Medien und Mobilität werden die Kommunikationsradien größer. In der Standardsprache sind es im Wortschatz vor allem Neologismen, die beispielsweise mit jeder technischen Neuerung kommen. Und bei der Grammatik verändert sich der Kasus-Gebrauch - oft wird Dativ statt Genitiv verwendet, Mündlichkeit manifestiert sich im Schriftlichen, besonders durch die Kommunikation via Internet. Im Grunde ist Sprache immer im Wandel - ein spannender Prozess.

 

Das Gespräch führte

Marco Schneider.

 

Zur Person

Monika Raml (44), ist seit September 2009 Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Deutschdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU). Von 2010 bis 2013 war sie am Projekt "Sprache im Fluss" beteiligt, das in Kooperation zwischen dem Kultusministerium und Altmühl-Jura durchgeführt wurde. Ziel des Projekts war, die regionale Sprachkultur der Altmühl-Jura-Gemeinden neu zu beleben. Am morgigen Mittwoch, 22. Februar, hält Raml im Rudolf-Koller-Saal (Volkshochschule, Hallstraße 5, Ingolstadt) einen Vortrag bei einer Veranstaltung des Migrationsrats der Stadt Ingolstadt zum Tag der Muttersprache. Beginn ist um 18 Uhr. Anschließend findet eine Podiumsdiskussion mit Raml, Rudolf Zehentbauer (Rektor der Christoph-Kolumbus-Grundschule) und Gülenay Ekici-Ucar (Dozentin für Deutsch als Fremdsprache) statt. ‹Œ ‹ŒEK