Eichstätt
"Wir brauchen einen Dosenöffner"

09.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:14 Uhr

Digitalisierung ist ein wichtiges Stichwort im G 9: Adalhard Biederer vom Gabrieli-Gymnasium und Claus Schredl vom Willibald-Gymnasium (rechts) unterhalten sich im Computerraum des WG. - Foto: Schneider

Eichstätt (EK) Ende Oktober hat der Bildungsausschuss des Bayerischen Landtags den Gesetzesentwurf zum neunjährigen Gymnasium beschlossen. Die heutigen Fünftklässler rutschen im nächsten Schuljahr automatisch in die neue Form. Wir haben uns mit den Direktoren des Willibald- und des Gabrieli-Gymnasiums über die Umstellung unterhalten.

Herr Biederer, Herr Schredl, wenn Sie an Ihre eigene Schulzeit zurückdenken: Wären Sie lieber aufs G 8 oder aufs G 9 gegangen?

Claus Schredl: Mir hat das G 9, in dem ich unterrichtet wurde, sehr gutgetan. Ich hatte viele andere Aktivitäten, es war für mich eine entspannte Zeit. Wenn das im G 8 gewesen wäre, hätte man das auch geschafft, man hätte halt anders planen müssen.

Adalhard Biederer: Ich habe mich sehr wohlgefühlt, vor allem in den letzten beiden Jahren die Leistungskurse sehr genossen - was uns da an Reflexion abverlangt wurde, das war schon beeindruckend. Das G 9, das kommen wird, wird anders sein, als es das damals war. Dieses neue G 9 wird auf die aktuellen Herausforderungen antworten müssen, so wie es das G 8 seinerzeit versucht hat.
 

Herr Schredl, Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie die Möglichkeit für Freizeitaktivitäten in Ihrer Schulzeit genossen haben. Hier gab es am bisherigen G 8 viel Kritik: zu wenig Freizeit wegen des Nachmittagsunterrichts, den Vereinen ist die Jugend weggeblieben. Kommt das jetzt wieder?

Schredl: Von einem Kollegen, der das Modell "Mittelstufe Plus" (ein zusätzliches Jahr in der neunten Jahrgangsstufe, d. Red.) an der Schule hatte, weiß ich, dass er eine höhere Nachfrage für den Wahlunterricht verzeichnete. Er hörte zudem von mehr Beteiligung bei Musikschule und Sportvereinen, Feuerwehr und so weiter. Ich denke, das wird auch im Landkreis mit dem G 9 so kommen.

 

Welchen Herausforderungen muss sich ein Gymnasium in der heutigen Zeit stellen?

Biederer: Für jede Schule zu jeder Zeit gilt die Aufgabe, die Kinder so auf diese Welt vorzubereiten, dass sie klarkommen, dass sie reflektieren und verstehen können, was läuft. Sie sollen in der Lage sein, als mündige Staatsbürger unterwegs zu sein. Eine zentrale Herausforderung, vor der das neue Gymnasium steht, ist die Digitalisierung.

Schredl: Wir brauchen einen Dosenöffner: Wie mache ich Jugendliche fähig, die Dose zu öffnen, das Problem zu lösen?

Biederer: Der didaktische Begriff dafür ist die Kompetenz. Der neue Lehrplan nimmt die Kompetenzorientierung stark in den Blick. Wie statten wir unsere Schüler mit Kompetenzen aus, mit denen sie Situationen bewältigen können, von denen wir heute noch keine Ahnung haben?

 

Wird es nicht auch angesichts der Digitalisierung immer schwerer, hier Schritt zu halten?

Schredl: Unsere ganze Umwelt ändert sich. Wenn Sparkassen Terminals abbauen und ich auf Online-Buchung umsteigen muss, betrifft das 18-Jährige genauso wie 75-Jährige. Wir müssen uns mit dieser Welt ändern und für uns Strategien entwickeln, wie wir damit umgehen. Die Welt dreht sich, da müssen auch wir Lehrer mitmachen.

Biederer: Es ist wirklich auch eine Herausforderung für uns Lehrer, aber da kommt man nicht drumrum. Die Vorstellung, dass man nach seinem Staatsexamen sagt: Jetzt ist aber Schluss, jetzt brauche ich nichts mehr lernen, das ist illusorisch - wenn's jemals so war.

 

Wenn wir bei der Digitalisierung bleiben: Wird sich die Schule auch äußerlich ändern? Gibt es in zehn Jahren noch Schulbücher oder rücken die Schüler mit dem E-Book-Reader an?

Biederer: Da traue ich mich fast wetten. Das G 9 setzt einen Schwerpunkt auf die Digitalisierung. Smartphones werden uns nicht retten und unsere Probleme auf der Welt lösen. Aber unsere Schüler müssen damit umgehen und diese Medien gleichzeitig reflektieren können. Diese Medien werden im Unterricht eine größere Rolle spielen.

Schredl: In zehn Jahren werden wir diese Offensive hinter uns haben, es wird digitale Schulbücher geben. Irgendwann wird auch der Schüler mit seinem eigenen Handy - mit Erlaubnis des Lehrers - beispielsweise Parabeln berechnen. Das kriecht, ob wir wollen oder nicht, in unseren Alltag.

Biederer: Die Schüler bringen solche Fähigkeiten teils ja schon aus der Grundschule mit. Wenn sie heute Referate halten, arbeiten manche Fünftklässler mit Powerpoint. Aber es ist auch eine Herausforderung, Kinder, bei denen das Elternhaus nicht so medienaffin ist, so weit zu bringen, dass sie damit umgehen können und später in einer digital geprägten Berufswelt ihren Mann, ihre Frau stehen können.

 

Das kostet alles Geld.

Biederer: Auch das müssen wir vom Schüler her denken. Da kann man jetzt nicht sagen, wir brauchen 300 Tablets. Man muss sich fragen: Was sollen unsere Schüler lernen? Und welche Ausstattung brauchen wir, um das zu erreichen? Das ist dann die Bestellliste an den Sachaufwandsträger. Aber es ist eine Illusion, dass jetzt jeder ein Handy bekommt und dann ist Schule nur noch cool und lustig. Lernen ist immer auch Arbeit. Aber es gibt immer Mittel, Unterricht anschaulich zu machen. Die Möglichkeiten, mit digitalen Medien zu veranschaulichen, zu konkretisieren, sind gewaltig. Aber sie lösen nicht die Anstrengung des Lernens auf.

 

Was wünschen Sie sich ganz konkret für das neue G 9, das jetzt von der fünften Klasse her aufgebaut wird?

Schredl: Wir denken immer vom Abitur her, planen rückwärts: Welche Kompetenzen müssen erworben sein und wie kommen wir da hin? Wir wünschen uns, dass man wieder eine gewisse Diskussionstiefe erreicht und eine Bildungsbreite, die langfristig bleibt und nicht nur angelernt ist.

Biederer: Unsere große Sorge war, dass wir mit dem neuen G 9 ein Monstrum geliefert kriegen, das uns die Organisation sprengt und uns überfordert. Wir haben Schüler, für die ist das G 9 ein Segen. Aber wir haben auch andere, die mit dem G 8 gut zurechtkommen. Die nun angedachte "Überholspur" (für Schüler, die das Gymnasium in acht Jahren schaffen können, wählbar, d. Red.) finde ich einen guten Weg. Was wir hören, wie diese gestaltet werden soll: Das klingt ganz gut. Ich bin auch froh, dass wir für beide Schülergruppen ein Angebot haben.

 

Gibt es etwas, was Ihnen wichtig ist, was gestärkt werden muss?

Biederer: In der elften Klasse soll die politische Bildung gestärkt werden. Es ist nicht mehr nur die Stunde Sozialkunde in der Zehnten. Das ist so wichtig: Wir brauchen Schüler, die sich politisch auskennen, die einen demokratischen Standpunkt haben, die nicht verführbar sind. Wir müssen ein politisches Bewusstsein schaffen, damit nicht die radikalen Ränder immer stärker werden. Sein Abitur zu machen und von Politik keine Ahnung zu haben - das soll nicht sein.

Schredl: Der Philosoph Hans Jonas hat ein Büchlein geschrieben, in dem habe ich gelesen, "mit Hirn und mit Herz eine Verantwortung fürs Gesamte" zu haben und nicht nur für Teilbereiche. Wir müssen die Schüler ertüchtigen, immer das Gesamte zu sehen. Die kleinen Dinge, die große Folgen haben.

Biederer: Man muss den Schülern zeigen: Das ist auch deine Welt, die du gestalten kannst. Der Einzelne wird jetzt die Welt nicht aus den Angeln heben. Aber jeder hat doch seinen Radius und seine Möglichkeiten.

 

Haben Sie den Eindruck, dass die Fehler bei der Einführung des G 8 unter Stoiber kein zweites Mal gemacht werden?

Schredl: Es wird bewusst der Dialog gesucht, wir werden immer aktuell informiert. Ich habe das Gefühl, man hat einen Gesprächsfaden in alle Richtungen.

Biederer: Der Minister hat das ausdrücklich gesagt: Die Fehler von damals sollen sich nicht wiederholen.

Schredl: Unser beider Anliegen war immer: Egal, was passiert, wir müssen die Schüler im Blick haben. Ich erinnere an Ihr Zitat, Herr Biederer: "Das G 8 ist keine brennende Hütte." Auch im G 8 haben wir Schüler, denen es gut ging. Jetzt haben wir einen Geburtsvorgang, das ist mit Wehen verbunden, jetzt kommt etwas Neues. Und das ist jetzt wieder eine Chance. Aber das Wesentliche ist wirklich: mündige Bürger zu formen.

 

Es ist wohl an keiner Schulart so viel herumgedoktert worden wie am Gymnasium. Wünschen Sie sich jetzt einmal Ruhe - unabhängig vom Lernstoff?

Biederer: (erleichtert) Ja!

Schredl: Wir haben viel Veränderung erlebt. Das war vielleicht nicht schlecht. Es gab viele positive Elemente beim Versuch, mit dem G 8 noch etwas zu machen, etwa die "individuelle Lernzeit". Die hätten wir vielleicht so nicht bekommen.

Biederer: Wenn man es jetzt von den Kollegen her denkt, die einen Lernerfolg beim Schüler herbeiführen wollen und dafür ja auch verantwortlich sind: Da probiert man mit einem neuen Lehrplan das aus und jenes und schaut, wie es am besten klappt. So entwickelt sich mit der Zeit die pädagogische Erfahrung, die guten Unterricht trägt. Und so wird es auch beim G 9 sein. Darum wären wir jetzt wirklich froh, wenn sich das Ganze nicht mehr mit der bisherigen Veränderungsgeschwindigkeit weiterdreht. Aber wir sind auch froh, dass die Schüler ein bisschen mehr Zeit bekommen, Ruhe und Muße, mit Dingen umzugehen, die man gelernt hat, das Gelernte auch wirken und reifen zu lassen.

Schredl: Und man braucht Muße, damit einen die Muse küssen kann.

 

Das Gespräch führte Marco Schneider.