Eichstätt
"Weltanschaulicher Vernichtungskrieg"

15.08.2011 | Stand 03.12.2020, 2:30 Uhr

Der Leiter des ZIMOS und Initiator der Ringvorlesung, Professor Leonid Luks (rechts), mit Dr. Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte in München - Foto: baj

Eichstätt (EK) Vor 70 Jahren überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Aus diesem Anlass startete das Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS) an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt eine vierteilige Ringvorlesung.

Dabei beleuchteten Wissenschaftler verschiedene Aspekte dieses Krieges und ließen die Analyse der rein militärischen Auseinandersetzung weit hinter sich. Schon der erste Vortrag von Professor Dr. Boris Chavkin von der Russischen Geisteswissenschaftlichen Staatsuniversität in Moskau rührte am deutschen Selbstverständnis. Chavkin sprach über den „Der deutsch-sowjetische Krieg und der deutsche Widerstand gegen Hitler“ und zeichnete dabei ein ambivalentes Bild der Widerständler des 20. Juli. Viele von ihnen waren anfangs glühende Bewunderer Hitlers und nach 1941 zum Teil sogar an Kriegsverbrechen beteiligt. Ob die Widerstandskämpfer aus innerer moralischer Überzeugung heraus handelten oder aus dem Kalkül, für Deutschland zu retten, was noch zu retten ist – diese Frage stand im Raum. Professor Dr. Leonid Luks, Leiter des ZIMOS, wies auf einen Ausspruch Henning von Tresckows, eines weiteren Mitverschwörers, hin: „... Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“ Ein Indiz für das Handeln nach moralischen Maßstäben.
 

Privatdozent Dr. Johannes Hürter vom Institut für Zeitgeschichte in München ging auf die nationalsozialistische Besatzungspolitik ein. Diese zeichnete sich neben dem Gerangel um Kompetenzen durch einen ausgeprägten Vernichtungswillen aus.

Für die Verteilung der Ressourcen der besetzten Gebiete gab es einen klaren Schlüssel: Zunächst musste die kämpfende Truppe versorgt werden, dann das Deutsche Reich, schließlich die europäischen Länder und erst zuletzt die sowjetische Bevölkerung, aber nur der Teil, der in deutschen Diensten stand.

Bereits vor dem Angriff hatten sich deutsche Agrarexperten überlegt, warum der Getreideexport aus Russland seit der Zarenzeit merklich zurückgegangen war. Nicht etwa Misswirtschaft der Sowjets sei der Grund, schlussfolgerten sie, sondern die um 30 Millionen Köpfe angewachsene Bevölkerung. Ihre furchtbare Empfehlung: 30 Millionen Menschen auslöschen, dann wäre Getreide in Hülle und Fülle vorhanden.

Mit dem „ersten“ deutsch-sowjetischen Krieg bis Ende 1941 und seiner Vorgeschichte beschäftigte sich Professor Leonid Luks. Er holte weit aus, bei den Repressalien Stalins gegen das eigene Volk. Hier legte Stalin einige Grundsteine, die zu den spektakulären Anfangserfolgen der Wehrmacht im Sommer und Herbst 1941 beitrugen: Das Offizierskorps war fürchterlich dezimiert, die Bevölkerung terrorisiert. Den Nazis gegenüber erwies sich die Sowjetunion als verlässlicher Partner. Sie beteiligte sich an Hitlers Eroberungen in Polen und unterstützte das „Dritte Reich“ materiell mit Getreide, Öl oder Erzen in riesigen Mengen. Diese Stalinsche „Appeasement“-Politik zeigt, wie falsch der Kremlherrscher Hitler einschätzte.

Hitler führte, wie Professor Luks erläuterte, einen „weltanschaulichen Vernichtungskrieg“. Es ging ihm nicht allein um Raumgewinn, sondern um die physische Vernichtung des Gegners. Heinrich Himmler stand dem in nichts nach: Der Zweck des Russlandfeldzugs sei die Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen. Als die Menschen erkannten, dass die Nazis ihnen keine Perspektive boten, formierte sich der eigentliche Widerstand in der Sowjetunion. Die Bevölkerung ging daran, das Vaterland zu verteidigen. Die Politik des Kremls, eine Mischung aus rigidem Kriegseinsatz und gleichzeitiger Gewährung gewisser Freiheiten, tat ein Übriges. Vor Moskau kam deutsche Front kam nicht nur zum Stehen, sondern stand vor dem Zusammenbruch. Der erste Teil des deutsch-sowjetischen Kriegs war beendet – zu Ungunsten der Nazi.

Der Zweite Weltkrieg ist in vielen Ländern noch gegenwärtig. Diesen sensiblen mentalitätsgeschichtlichen Anspekt bereitete Dr. Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte in München auf. In Russland wird der Sieg groß mit Militärparaden gefeiert und die Erinnerung an die heroische Tat bewusst wach gehalten. Für die Baltischen Staaten bedeutete der Sieg der Sowjetunion aus ihrer Sicht das Ende ihrer Eigenstaatlichkeit. In der Ukraine wurde unter Präsident Janukowitsch sogar offiziell versucht, Nazi-Kollaborateure als Nationalhelden zu stilisieren. Nur in Deutschland selbst findet der Sieg über den Nazismus erstaunlich wenig Widerhall.