Eichstätt
Verluste sind noch immer zu verspüren

"Fluchtgeschichten" aus Syrien und dem Sudetenland bei einem Abend von "Pax Christi"

20.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:09 Uhr

"Pax Christi"-Vorsitzende Irmgard Scheitler (Mitte) moderierte den Abend mit Erinnerungen von Sigrid Salomon, die 1946 aus dem Sudentenland vertrieben wurde (links), und Dorey Mamou, der 2013 aus Syrien floh (rechts). - Foto: Buckl

Eichstätt (buk) Ganz unabhängig davon, ob die Vertreibung schon 70 Jahre lang zurückliegt oder die Flucht erst vor drei Jahren stattfand: Verluste sind noch immer zu verspüren. Das zeigte der erste von zwei Abenden mit Fluchtgeschichten, den "Pax Christi" Eichstätt unter dem Motto "Erzähl mir dein Leben" veranstaltete. Hier waren als Zeitzeugen und Betroffene Sigrid Salomon, 1946 aus dem Sudetenland vertrieben, und Dorey Mamou, 2013 aus Syrien geflohen, zu hören. Sensibel geleitet und moderiert wurde der Abend durch die Germanistin Irmgard Scheitler, eine der beiden Vorsitzenden der "Pax Christi"-Gruppe.

Sie nannte als Motivation für den Abend eine Anregung des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der 1989 die Landsleute aufgerufen hatte, sich ihre Lebensgeschichten zu erzählen, um die Fremdheit zu überwinden. "Was für Ossis und Wessis gilt, ist erst recht für Alt-Eingesessene und jene richtig, die irgendwann einmal fremd in diesem Land waren", meinte Irmgard Scheitler eingangs und erinnerte daran, dass Deutschland auch schon den Zuzug von Spätaussiedlern und Russlanddeutschen, ungarischen Flüchtlingen nach 1956, DDR-Flüchtlingen über all die Jahre, von Afghanen oder Balkanflüchtlingen erlebt habe.

Die heute in Wettstetten heimisch gewordene Sigrid Salomon, die als Sechsjährige 1946 aus dem nordmährischen Hohenstadt am Fuße des Altvatergebirges im Sudetenland vertrieben wurde, erzählt von einer idyllischen Kindheit, in der sie gern im Garten spielte ("einmal bohrten wir ein Loch, weil wir nach Amerika wollten"). Die letzten Kriegsjahre assoziiert sie mit stetem Heulen der Sirenen und einer schrecklichen Erinnerung "Am 8. Mai 1945 schickte uns Opa alle in den Keller, er selbst wollte nur noch ein Werkzeug in den Schuppen bringen - da gab es einen Knall": Er war von einer russischen Granate tödlich getroffen worden.

Mit ruhigen Worten berichtet Sigrid Salomon, dass ihr Elternaus mitsamt dem Hausrat Tschechen übernahmen; ihre Mutter und sie mussten ins Haus der Oma ziehen. Stolz zeigte ihr das neu eingezogene kleine Mädchen "ihren neuen Puppenwagen. Aber das war meiner, und ich durfte das nicht sagen ...!" Im Januar 1946 erfolgte die Abschiebung mit nur 50 Kilo Gepäck. Ein im Mantelsaum eingenähter Verlobungsring der Mutter wurde beim Transport im Viehwaggon nicht entdeckt, Sigrid Salomon trug ihn an der Hand. Nach Einquartierungen in Hessen bei reichen Bauern, im fränkischen Arberg, wo sie Anschluss fand, und in Baden, wo sie wegen des Dialekts gehänselt wurde, landete sie in Wettstetten, wo sie auch durch ihr Engagement in der Ackermanngemeinde eine Aussöhnung mit den Tschechen findet.

Ein Beispiel bestens gelungener Integration bot Dorey Mamou, der 2013 aus Syrien geflohen war und jetzt als Lehrer Kinder von Asylbewerbern unterrichtet. Er wuchs zweisprachig mit Aramäisch und Arabisch auf. Bis zur Jugend erlebte er in der nordostsyrischen Stadt al-Hasaka liberal-friedliche Koexistenz verschiedener Religionsgemeinschaften ohne Fundamentalismus oder Fanatismus - von Muslimen, Christen und Jesiden. Er arbeitete als Lehrer und absolvierte ein Fernstudium der Pädagogik und des Übersetzens vom Englischen ins Arabische. Doch das Klima änderte sich in der Stadt, Angst zog ein. Um der Einberufung zu entgehen, floh er im Sommer 2012 in die Türkei, gelangte aber nicht über die Grenze nach Griechenland und kehrte freiwillig zurück nach Syrien zu den höchst besorgten Eltern.

Der zweite Fluchtversuch gelang. Mamou erzählt von den Schleppern und hohen Summen, die er zahlen musste. Über den Libanon kommt er nach Deutschland, Bayern weist dem Asylbewerber als Aufenthalt Wettstetten zu. Dorey macht sich nützlich als Freiwilliger und bekommt Kontakte zur Caritas und zur studentischen Tun-Starthilfe. Als Lehrer kann er für die Willkommensklasse in der Maria-Ward-Realschule, dann in der Berufsschule arbeiten, daneben geht er allerlei ehrenamtlichen Tätigkeiten nach. Heute hat er in Eichstätt vielerlei soziale Beziehungen und freut sich, andere Menschen unterstützen zu können. Auch seine Eltern sind inzwischen in Deutschland angekommen und können leicht besucht werden.

Am nächsten Abend, Dienstag, 25. Oktober, erfährt man von den Erlebnisse von Refki Kryezi, der aus dem Kosovo, und von Ghulam Hussain, der aus Afghanistan geflohen ist. Die Veranstaltung beginnt um 19.30 Uhr im Dompfarrheim St. Marien am Pater-Philipp-Jeningen-Platz 4.