Eichstätt
Ohne Hemmschwellen

"Den Leuten helfen, die wenig Lobby haben": Wirbelwind kämpft beim Landkreis wieder um Geld

30.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:22 Uhr

Foto: Marco Schneider

Eichstätt/Ingolstadt (EK) "Der Missbrauch war da. Er war Alltag." Beate G. (alle Namen geändert) hält ihren Stift in der Hand. Über Jahre hinweg in die Enge getrieben, missbraucht, gefoltert. Von einem nahen Familienmitglied. G. schildert ihre Erlebnisse. "Ich konnte mich dem nicht entziehen." Ihr Blick geht ins Leere. In einer Ingolstädter Altbauwohnung hat die Beratungsstelle Wirbelwind ihren Sitz. Und dort war Beate G. über Jahre hinweg zu Beratungsgesprächen. "Heute bin ich gefestigt, stehe mit beiden Beinen im Leben."

Dass heute hier Politikerinnen sitzen, hat einen Grund: Der Vorstand von Wirbelwind will zeigen, warum Frauen die freie Beratung bevorzugen. Die Einladung kommt dabei nicht von ungefähr, aber losgelöst von der Vergewaltigung am Eichstätter Herzogsteg. Bekanntlich hat der Landkreis Eichstätt seit diesem Frühjahr eine eigene Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt. An deren Errichtung hatte sich im vergangenen Jahr ein Konflikt entzündet, Frauen starteten eine Onlinepetition, das Geld sollte an den seit 20 Jahren agierenden Verein "Wirbelwind" gehen. Der kämpft beim Landkreis bereits seit Jahren um eine finanzielle Unterstützung. Am Ende des Streites im vergangenen Jahr gibt es zumindest zweimal 10 000 Euro für Wirbelwind. Jetzt will man zeigen, welche Arbeit Wirbelwind macht. Und am Ende einen Antrag an die Kreisrätinnen überreichen, mit der Bitte um Förderung (siehe nebenstehenden Bericht).

"Dass ich heute so bin, wie ich bin, hat bei mir das Jugendamt nicht geschafft, das hat keine andere Therapie geschafft, sondern nur Wirbelwind", sagt Beate G. "Das Amt", wie es immer wieder an diesem Abend heißt, habe nur eines erreicht: "Ich habe ein Jahr geschwiegen." Keinen Ton gesagt. Zu niemandem "Deswegen ist es so wichtig, dass es freie Träger gibt." Keine "amtliche Stelle", wie die "WEIche", die im Frühjahr gestartete Beratungsstelle des Landkreises Eichstätt in der Ingolstädter Dienststelle genannt wird.

Gerne sagt man zu so einem Abend nicht zu. "Die Leute weichen aus, das Thema will keiner hören", sagt Vize-Vorsitzender Franz Hutter. Er ist, vom Berichterstatter abgesehen, der einzige Mann in der Runde. "Die Männer haben Angst vor diesem Thema", ist sich CSU-Kreisrätin Hannelore Eichenseher sicher. Geballt an einem Abend fünf Geschichten von Betroffenen zu hören, das packt nicht jeder. "Wir wollen Sie nicht erschlagen, so dass Sie am Ende rausgehen und nicht mehr wissen, wo vorne und hinten ist", beschwichtigt Wirbelwind-Geschäftsführerin Andrea Teichmann, die von Anfang an auch in der Beratung tätig ist. Aber es ist hart, zu hören, was die Frauen erzählen.

Carolin P. fällt es schwer, aber sie will es sich von der Seele reden. Sie drückt ihren Knautschball von einer Hand in die andere, immer wieder kämpft sie mit den Tränen. Der eigene Bruder war es. In einem Alter, in dem sie nicht gewusst hat, was mit ihr passiert. Die Eltern wiegeln später ab, als es rauskommt. Das dürfe man jetzt nicht so eng sehen. Die drei Kreisrätinnen, die gekommen sind - neben Eichenseher sitzen ihre Parteifreundin Maria Weber und die SPD-Politikerin Beate Ferstl - schnaufen immer wieder schwer. Schütteln den Kopf. Fassungslosigkeit liegt in der Luft, die mit jedem Satz dünner wird. Irgendwann öffnet doch eine der Frauen das Fenster. Von draußen dringen fröhliche Stimmen herein, die unten im Eiscafé das Dolce Vita genießen.

"Wir haben die Verpflichtung, jedem zu helfen", sagt Franz Hutter. Er ist sich sicher, dass der Landkreis mit der Fachstelle in der Ingolstädter Dienststelle die Neutralität nicht wahren kann. "Wir haben keine Richtlinientherapie." Hannelore Eichenseher will das nicht abstreiten, aber: "Diesen Grundsatz nimmt der Landkreis auch für sich in Anspruch." Trotzdem: "Ein Amt ist immer mit einer Hemmschwelle verbunden", kontert Hutter.

An die 50 von sexualisierter Gewalt und ihren Folgen Betroffene aus dem Landkreis Eichstätt habe man im vergangenen Jahr bei Wirbelwind abweisen müssen, "weil uns das Geld nicht reicht, um weiteres Personal anzustellen", sagt Andrea Teichmann, die zusammen mit Petra Kufner die Beratungsgespräche führt. Sie könnten manchmal nicht ans Telefon gehen, "weil wir so überlastet sind". Aber: Man könne nicht warten, sagt Vize-Vorsitzende Bettina Pfahler. "Man muss schauen, dass der Mensch Stabilität gewinnt, und zwar möglichst rasch", ergänzt Teichmann. Aber bis man diesen Schritt des Hilfeholens gehen könne, brauche es Zeit, berichtet Dagmar T. Sie selbst habe es erst nach mehreren Anläufen fertiggebracht. Und beim ersten Termin bei Wirbelwind sei sie eine Stunde um das Haus gelaufen: Soll ich, soll ich nicht, soll ich, soll ich nicht ...

Aber es geht oft um so vieles, wie Dagmar T. klar macht. Der bei ihr vermutete Missbrauch in der Kindheit, Vergewaltigungen als Erwachsene. Und dann noch nahezu tägliche Begegnungen mit ihrem Peiniger - bis heute. "Ich verdanke Wirbelwind mein Leben", sagt T. mit zitternder Stimme. Wie oft stand die Frage nach dem Suizid im Raum. "Hier gibt es keinen Blick auf die Uhr, wenn eine Sprechstunde einmal länger dauert." Und: "Hier geht man erst raus, wenn die Beraterin sicher ist, dass man sich nichts tut." Man sei "einfach da".

Die Frauen wollen sich nicht instrumentalisiert sehen. Sie wollen vermitteln, wie wichtig es ist, "freie Träger zu haben", die sich mit den Opfern sexualisierter Gewalt auseinandersetzen, sagt Beate G. Von sich aus habe man sich entschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen, wird betont. Es gelte doch, "den Menschen zu helfen, die wenig Lobby haben", hebt Bettina Pfahler hervor. "Auch denen, die aus dem Landkreis Eichstätt zu uns kommen wollen." Man sei nicht auf Konfrontation aus, man wolle die Zusammenarbeit. Nicht umsonst habe man sich schon mit den beiden Mitarbeiterinnen der "WEIche" getroffen. "Es braucht Wirbelwind und es braucht die ,WEIche'", sagt Carolin P.