Eichstätt
"Es fehlt der Gesellschaft an politischer Urteilskraft"

25 Jahre nach der deutschen Einheit nimmt der Politikwissenschaftler Bernhard Sutor Stellung zu aktuellen Fragen der Zeit

01.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:44 Uhr

Bernhard Sutor lehrte von 1978 bis 1995 in Eichstätt. - Foto: chl

Eichstätt (EK) Zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung werden wieder alte Fragen gestellt: Ist die Einheit gelungen? Sind wir wirklich ein Volk? Sind die Unterschiede in den Lebenslagen nicht doch noch zu stark? Gibt es noch die Mauer in den Köpfen? Sozialforscher sagen uns: Nein, die Mauer ist weg. Es gibt allenfalls noch Gartenzäune. Aber diese sind bekanntlich durchlässig; sie grenzen zwar ab, aber ermöglichen auch Kommunikation.

Aber heute geht es – wie vor 25 Jahren – auch um ganz andere, gewichtigere Fragen. Wir sind hier in Eichstätt in der Zeit, als der Kommunismus noch im Osten herrschte, einem Mann begegnet, der uns das in seiner Person geradezu demonstrieren konnte: Wladyslaw Bartoszewski. Er ist im April 2015 im Alter von 93 Jahren verstorben. Dieser polnische Politiker, zweimal Außenminister, Deutschlandbeauftragter seiner Regierung, war 1985/86 Gastprofessor an unserer Universität. In Vorträgen und Gesprächen hat er damals eindrucksvoll seine Überzeugung begründet, dass die deutsche Einheit in Freiheit und die Freiheit unserer östlichen Nachbarn nur zusammen erreicht werden könnten und müssten. Das sagte ein Pole, der Auschwitz, stalinistische Gefängnisse und die Internierung während des polnischen Kriegsrechts 1981 hinter sich hatte. Die deutsche Frage war immer auch eine europäische.

Erweitern wir diese historische Perspektive im Blick auf heute. Ein anderer polnischer Politiker, Außenminister Radoslaw Tomasz Sikorski, sagte 2012, er fürchte deutsche Macht weniger als deutsche Untätigkeit unter den Nationen Europas. Muss man das erklären? Deutschland wuchs schon als alte Bundesrepublik zur stärksten Wirtschaftsmacht in der Europäischen Union heran. Politisch jedoch blieb es ein Zwerg, vorsichtig im Windschatten des Ost-West-Konflikts lebend. Diese Zeiten sind vorbei. Wir können nicht als Exportweltmeister so tun, als gingen uns die Krisen und Konflikte in der heutigen Welt nichts an. Man braucht gegen diese Versuchung zum Wegschauen gar nicht unsere hohen Werte wie Freiheit und Menschenrechte, Frieden und Gerechtigkeit aufzurufen. Es geht auch um unsere Interessen. Globale Finanzkrise, Euro- und Griechenlandkrise, Ukraine, Syrien, Irak, Ost- und Westafrika und jetzt, daraus folgend, die Flüchtlingsprobleme demonstrieren, dass deutsche Politik im Verbund der Europäischen Union in ganz neuer Weise gefordert ist.

Ich habe Zweifel, ob das politische Bewusstsein der Deutschen aufgeklärt genug ist, sich diesen Fragen zu stellen. Wir erleben seit Wochen in erfreulicher Weise, wie viele Kräfte unserer Gesellschaft, zumal auch hier in Bayern und in Eichstätt, sich engagieren für Menschen, die bei uns Zuflucht suchen. Das zeigt, wie stark unsere Zivilgesellschaft sein kann. Aber ist sie auch stark genug, politisch realistisch und kompromissbereit genug, wenn die unvermeidlichen Konflikte gelöst werden müssen, für die eine „Willkommenskultur“ nicht reicht? Wenn es um Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitsplätze, um Wohnungen und Gesundheitsversorgung geht, um das Aushalten von kulturellen Spannungen im zunehmenden Pluralismus der Gesellschaft.

Wissenschaftliche Beobachter registrieren seit langem, wie politische Beteiligung der Bürger sich verschiebt, weg von längerem Engagement in Parteien und Wahlämtern, hin zu spontanen Initiativen und zu provokativen Demonstrationen. Zwar hält die große Mehrheit Demokratie für unentbehrlich, aber die Beteiligung an Wahlen, sogar wenn es um die Bürgermeister und Stadträte geht, sinkt unter 50 Prozent.

Wir müssen einen großen Vertrauensschwund feststellen zwischen den Bürgern und ihren politischen Repräsentanten, obwohl nur ihr Zusammenwirken in einer Demokratie die politischen Probleme lösen kann. Darin zeigt sich auch eine Unfähigkeit oder Unwilligkeit, sich den eigentlich politischen Fragen zu stellen, die nun einmal Streitfragen sind. Demokratie ist keine Wohlfühleinrichtung, und Politik kann man nicht durch die Demonstration guter Gesinnung ersetzen. Es fehlt an Verständnis für dauerhaftes politisches Engagement und für die, die es auf sich nehmen. Die deutsche Gesellschaft ist ökonomisch und sozial stark, reich auch an kulturellem Engagement, aber es fehlt ihr an politischer Urteilskraft.

 

Bernhard Sutor lehrte von 1978 bis 1995 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Von 1986 bis 1994 war er Eichstätter Diözesanratsvorsitzender und von 1993 bis 2001 Vorsitzender des Landeskomitees der Katholiken in Bayern.