''Doppelt verängstigt''

26.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:30 Uhr

Flüchtlinge, hier eine Gruppe friedlicher Wifi-Nutzer auf dem Eichstätter Marktplatz, sehen sich nach den Ereignissen dieser Woche verstärktem Druck und vermehrtem Misstrauen ausgesetzt. - Fotos: Chloupek

Eichstätt (EK) Psychische Auffälligkeiten von Flüchtlingen stehen derzeit im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Tatsächlich sind psychische Erkrankungen von Asylbewerbern auch im Landkreis Eichstätt durchaus ein Thema – allerdings anders als so mancher Bürger vermuten mag. Das zeigt sich im Interview mit Caritas-Sozialarbeiter Simon Kolbe.

Der Axtangriff bei Würzburg, der Bombenanschlag in Ansbach, die sexuelle Belästigung in Wellheim: Psychische Auffälligkeiten von Flüchtlingen stehen derzeit im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Ein sachlicher Blick auf die Zahlen hinter der aktuellen Stimmungslage zeigt: Es sind seltene Einzelfälle. Wie steht es um die Betreuung solcher Menschen im Landkreis Eichstätt, wie gehen die Bürger am besten damit um? Ein kompetenter Ansprechpartner dazu ist Simon Kolbe, einer der zehn Caritas-Sozialarbeiter.

Herr Kolbe, sind psychische Erkrankungen in Ihrer Arbeit ein Thema?

Kolbe: Ja, aber hauptsächlich nicht so, wie es jetzt thematisiert wird.

Sondern wie dann?

Kolbe: Es gibt Untersuchungen, dass 50 bis 80 Prozent der Geflüchteten traumatisierende Erlebnisse hinter sich haben. Sie alle stehen extrem unter Stress und unter Druck.

Das bedeutet aber noch nicht, dass sie für sich oder andere gefährlich sind?

Kolbe: Richtig. Traumatisiert bedeutet, sie haben einen schweren Schicksalsschlag erlitten, Entbehrungen und Misshandlungen erlitten, den Tod erlebt, solche Sachen. Das ist ein Prozess, der auch bei uns nicht aufhört. In den Unterkünften bei uns ist die Konstellation sehr heterogen, auch das führt zu Stress und kann psychisch krank machen.

Wie äußert sich das im Alltag?

Kolbe: In erster Linie sind das depressive Erscheinungen, die Leute sind zurückgezogen, traurig, haben Verlustängste oder Ängste weggesperrt zu werden. Das sind Ängste, die sich verstärken können, je länger das Asylverfahren dauert. Dazu kommt noch der Druck von außen, auch durch die Politik und Bürger, die betonen, dass sie hier nicht willkommen seien.

Fühlen sich die Flüchtlinge durch die aktuelle Situation und das verstärkte verallgemeinernde Misstrauen in der Bevölkerung jetzt noch zusätzlich unter Druck gesetzt?

Kolbe: Ja. Das Problem ist, dass unsere Klientel jetzt doppelt verängstigt ist. Der Großteil ist vor Terror und aus Terrorregime geflohen und hat hier Schutz gesucht. Jetzt haben sie Angst vor der gesellschaftlichen Antipathie und vor „eigenen Leuten“, die vielleicht auch gefährlich sein könnten. Das ist ein extremer psychischer Druck. Das hatten wir in Stasizeiten und im Zweiten Weltkrieg so ähnlich, dass man nicht mehr weiß, ob man dem Nachbarn trauen kann. Wenn wir uns als Bürger jetzt gegen sie wenden sollten, dann hätten die Terroristen gewonnen, denn auch die Geflüchteten fürchten sich vor Terroristen.

Wie gehen Sie konkret im Alltag um, wenn Sie bei jemandem psychische Probleme bemerken?

Kolbe: Wir gehen mit der Person zu einem Hausarzt und erläutern die Probleme, die wir sehen. Der Hausarzt stellt dann einen Überweisungsschein zum Psychologen oder Psychiater aus zur Abklärung und Diagnostik.

Ist es nicht schwierig, zeitnah Termine zu bekommen? Die Wartezeiten bei Psychotherapeuten sind in der Regel lang.

Kolbe: Es wird sogar noch schwieriger. Denn im Landkreis Eichstätt werden diese Leute erst von den Amtsärzten begutachtet und meistens leider abgelehnt. Das Gesundheitsamt bewegt sich zwar im gesetzlichen Rahmen, handhabt das aber schon besonders rigide. Und das verzögert leider die Behandlung und Gesundung unserer Klienten und kann durchaus dazu führen, dass sich Akutfälle mit Eigen- und Fremdgefährdungspotenzial daraus entwickeln. Ein Großteil unserer Arbeit ist damit behaftet, die Leute zu einer guten medizinischen Versorgung zu bringen. Das funktioniert mit den Hausärzten in Eichstätt sehr gut, bei den Amtsärzten gibt es aber Reibungspunkte, die wir beheben sollten.

Das klingt angesichts der Ereignisse der vergangenen Woche allerdings dramatisch.

Kolbe: Das ist aber kein neues Problem. Wir kämpfen, seit ich den Job habe (seit November 2014, Anm.d.Red.), damit. Wir haben mit Ausländerbehörde, Sozialamt und Polizei eine sehr gute Kooperation und erleichtern uns gegenseitig die Arbeit. Aber bei der Gesundheitsbehörde haben wir leider keine Mittel und Zugänge, im Gegenteil, da wird uns bisher noch die Tür zugehalten.

Als Gründe für ein solch restriktives Vorgehen könnte man zum einen Kostengründe nennen. Zum anderen gibt es immer wieder Vorwürfe aus der Bevölkerung, Flüchtlinge würden sich Leistungen erschleichen. Was sagen Sie dazu?

Kolbe: Um das hier einmal ganz klar zu betonen: Da gibt es für Asylbewerber nichts geschenkt. Das ist auch richtig und gut so. Unser Grundgesetz verlangt von uns, dass wir uns um sie kümmern und das sollten wir auch tun. Wir haben Klienten, denen es schlecht geht, die gefährden niemanden, die haben aber viel erlebt. Und es gibt akute Krisen, wenn Familienangehörige von einem Boot auf dem Mittelmeer noch anrufen und sich verabschieden, weil sie kentern – und dann tatsächlich ertrinken. Wir haben solche Fälle, das ist tragisch. In der Regel kommt es nicht zu Aggression, aber die Leute sind verzweifelt.

Wie geht man mit den Leuten um, wenn sie keine oder noch keine therapeutische Behandlung bekommen?

Kolbe: Wir haben zum Glück in Eichstätt psychiatrisches Fachpersonal, das auch ehrenamtlich akute Krisen versorgt, und wir haben auch spirituelle Angebote.

Das ist aber sicher auch eine Belastung für die Ehrenamtlichen.

Kolbe: Richtig, das ist unsere zweite Zielgruppe. Da kann es zu einer Sekundärtraumatisierung kommen. Unsere Ehrenamtlichen sind sehr belastet, weil sie sich schon seit zwei, drei Jahren um die Belange der Geflüchteten kümmern, das benötigt ein hohes Potenzial von Ausdauer, Empathie und Frustrationstoleranz. Auch dazu gibt es Angebote.

Einerseits gilt die Flüchtlingsversorgung in Eichstätt nach wie vor als eine der besten in Bayern. Andererseits hat sich die Brisanz nun mit den Ereignissen der vergangenen Woche verschärft. Was würden Sie sich aus der aktuellen Diskussion erhoffen und erwarten?

Kolbe: Die Gesellschaft, die Bürger brauchen ein Gefühl von Sicherheit. Und das leisten Behörden und Polizei auch. Ich sehe, wie gut etwa die Eichstätter Polizei hier arbeitet – auch in Stresssituationen. Sicherheit ist ein wichtiger Aspekt. Aber wir werden nur dann dauerhaft damit Erfolg haben, wenn wir uns darum kümmern, warum sich jemand radikalisiert oder Amok läuft – das Thema betrifft nicht vorrangig Flüchtlinge. Das Wichtigste muss sein, dass wir unsere Werte wahren, die Grundrechte – und dazu gehört auch die Unschuldsvermutung für jeden Einzelnen – nicht beschneiden, dass wir zusammenhalten und sagen: Auch wenn es vielleicht schwierig ist, wir helfen ihnen trotzdem. Wenn wir das aufgeben, dann hätten die Terroristen wirklich ihr Ziel erreicht.

Das Gespräch führte Eva Chloupek