Bemerkenswertes Familientreffen

Beim gemeinsamen Abend der Familien Müller und Dachauer füllen einige Recherchelücken aus der Vergangenheit

28.05.2015 | Stand 02.12.2020, 21:15 Uhr

John Dachauer und seine Schwester Ellen vor den Steinen in der Luitpoldstraße 14, die an ihre Großeltern erinnern.

Dem 20-jährigen Eichstätter Valentin Müller und dem 60-jährigen US-Amerikaner John Dachauer geht das „Stolperstein“-Projekt gleichermaßen besonders nahe.

Müller ist nicht nur Mitglied der Schülergruppe, die das Projekt auf die Beine gestellt hat, er ist auch persönlich betroffen: Sein Urgroßvater, dessen Vornamen er trägt, hatte das Haus in der Luitpoldstraße 14 während der NS-Zeit von der jüdischen Familie Dachauer gekauft. „Ich habe mich wegen des Projektes erstmals auch mit meiner Familiengeschichte auseinandergesetzt“, sagt der 20-Jährige. „Großvater und Urgroßvater waren in der Wehrmacht. Das hinterlässt schon einen bitteren Beigeschmack.“ Und John Dachauer ist als Nachkomme der Familie Dachauer wegen der „Stolpersteine“-Aktion erstmals von Oklahoma City nach Eichstätt gereist, um bei der Aktion dabei zu sein, und um die Heimat seiner Großeltern und seines Vaters Simon Dachauer kennenzulernen. Johns Schwester Ellen, verheiratete Kaplan (55), war dagegen schon des Öfteren in Eichstätt – sie hatte in den 1970er Jahren dank eines Schüleraustausches zufällig die Beziehung zur Heimatstadt ihres 1980 verstorbenen Vaters Simon Dachauer wiederentdeckt und gepflegt. Ursula Schwänzl aus Deggendorf war damals zu Gast bei den Dachauers in Oklahoma, als Ellens Vater Simon beim Blättern in einem Buch über Bayern – ein Gastgeschenk, das die Deggendorfer Schülerin zufällig dabei hatte – auf ein Foto vom Eichstätter Marktplatz deutete und bemerkte: „This is our House.“ Denn bis 1913 hatten die Dachauers in der Westenstraße 1 am Marktplatz gelebt – heute ist hier der EICHSTÄTTER KURIER untergebracht. Das war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft zwischen Ellen und Ursula und der Start einer Recherche der Familiengeschichte, die nun in dieser Woche von vielen neuen Erkenntnissen bereichert wurde.

Denn am Vorabend der „Stolperstein“-Aktion hatte Dominik Müller im Domherrenhof zu einem außergewöhnlichen Familientreffen der Dachauers, Müllers und Schwänzls eingeladen: „Uns, als Familie, die jetzt in Ihrem Haus wohnen, leben und arbeiten, ist dieses Gedenken sehr wichtig.“ Dass das Restaurant am Domplatz als ehemaliges Wohn- und Geschäftshaus der jüdischen Familie Guttentag ebenfalls Teil des „Stolperstein“-Projekts ist, war nur ein Aspekt aus einer ganzen Reihe von bemerkenswerten Querverbindungen. Die Gäste aus Amerika profitierten vom Wissen des Experten der Eichstätter Stadt- und NS-Geschichte, Brun Appel. Und der nutzte, unterstützt von Dolmetscherin Kerstin Kazzazi, seinerseits die Gelegenheit, Lücken in seinen Recherchen aufzufüllen.

So erfuhr Brun Appel zum Beispiel, dass Simon Dachauers Bruder Robert nicht nur nach England flüchten konnte, sondern dort auch geheiratet hatte. Nämlich jene „Tante Resi“, wie Ellen Kaplan erklärte, die als Mitarbeiterin des französischen Konsulats in Frankfurt auch die Reisepapiere für ihren Vater Simon organisiert hatte – für die Rettung der Großeltern Hermann und Emilie war es leider zu spät.

Simon Dachauer hatte schon kurz nach der Machtergreifung 1933 seinen erlernten Beruf als Rechtsanwalt nicht mehr ausüben können, erzählt Ellen Kaplan, die ebenfalls Juristin geworden ist. Als es immer gefährlicher wurde, gelang ihm eine abenteuerliche Flucht: Unter anderem nach Frankreich, wo er mit falschen Papieren und oft kurz vor der Entdeckung lange Jahre in Paris lebte, weiter mit der Fremdenlegion in Südfrankreich und in der Sahara und schließlich über Italien bis in den Vatikan, wo er sich als eine Art Hausmeister versteckt halten konnte. „He was liberated in Rome“, erzählt John Dachauer. Von den Amerikanern befreit wanderte Simon Dachauer nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten aus – und wäre da bei seiner Ankunft beinahe zu Tode gekommen, als er in Chicago von einem Holzlastwagen angefahren wurde – „a German brand“: Der Lkw war also ein deutsches Fabrikat. Simon Dachauer überlebte auch diesen Unfall und starb 1980 im Alter von 76 Jahren in Amerika.

Seinen Kindern John und Ellen hatte Simon Dachauer also viel von seiner alten Heimat Eichstätt erzählt, in dem liberal-jüdischen Haushalt sei auch der ein oder andere bayerische Schweinebraten auf den Tisch gekommen. chl