Beilngries
"Es geht mit rasanter Geschwindigkeit abwärts"

28.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:31 Uhr

Mit einem Präsent bedankten sich Mediziner aus der Region bei Renate Hartwig für ihren Vortrag. Unser Bild zeigt von links Ulrike Ballier, Wolfgang Respondek, Rottraud Allgayer, Harald Uhl, Renate Hartwig, Wolfgang Brand und Petra Henneberger. - Foto: Beringer

Beilngries (DK) "Es ist Ihr Geld. Wir müssen uns nicht alles gefallen lassen." Die Botschaft durchzieht den Abend wie ein roter Faden. Es ist der Aufruf zum Hinsehen, zum Hinhören und vor allem: zum aktiv werden. Renate Hartwig, Publizistin und Bestsellerautorin, kämpft seit Jahren gegen Kommerzialisierung und Profitorientierung sowie für Gerechtigkeit im deutschen Gesundheitswesen.

Alle Probleme, die sie angesprochen hat, laufen auf diese eine Forderung zu, der sich Hartwig unermüdlich und couragiert widmet: "Wir müssen aufstehen und massiv eine Gegenbewegung in Gang setzen. Anders können wir die Ziele der Politik nicht stoppen." Dabei seien es gar nicht mehr so sehr die Ziele der Politik, um die es hier geht, so ihr Credo. Es seien die Ziele einer starken und einflussreichen Lobby, die Ziele der pharmazeutischen Industrie. Hartwig zitiert eine Aussage Horst Seehofers, nach der diejenigen, die entscheiden, nicht gewählt seien und diejenigen, die gewählt werden, nichts zu entscheiden hätten. Somit würden Volksvertreter zu Industrievertretern, "hier wird’s gefährlich", mahnt Hartwig. Nun, da dieses Faktum im Raum stehe, bleibe die Frage: Wer steuert dagegen, wer ändert das?

Fassungslosigkeit

Und genau hier liegt das Problem. Noch läuft es für die meisten Bürger mit dem deutschen Gesundheitssystem ganz gut. Versichertenkarte, Hausarzt, Soforthilfe bei Notfällen, Überweisungen, alles sei da. "Sie murren zwar, weil sie immer mehr zahlen müssen, aber die volle Wucht des Systems haben sie noch nicht gespürt." Renate Hartwig aber kennt solche Fälle, auch am Dienstagabend erzählt sie von ihnen – und löst Bestürzung und Fassungslosigkeit aus. Sie berichtet von einem Contergan-geschädigten Mann, der ohne Ohren zur Welt kam, dem die Krankenkasse als Sehhilfe dennoch keine Kontaktlinsen genehmigte, sondern eine Brille mit Gummiband, "wie eine Taucherbrille". Sie schildert den Kampf einer Familie mit drei behinderten, inkontinenten Söhnen um Windeln, die auch das halten sollen, was sie versprechen. Sie weiß von einer Patienten, die trotz privater Zusatzversicherung nicht entsprechend weiterbehandelt wurde, weil sie das gleiche Leiden schon einmal hatte. Damit zählte es als chronische Krankheit, die aber nicht mitversichert war.

Rückgang der Hausärzte

Natürlich könnten wir uns alle privat versichern, erläutert Hartwig, und verweist auf die von Gesundheitsminister Philipp Rösler propagierte Freiheit bei der Wahl der Versicherung. "Aber was glauben Sie, was Sie an Vorgeschichten und familiären Anlagen alles mitbringen? Das wird alles nicht mitversichert!" Die Verhältnisse würden mehr und mehr amerikanisch, "dort sind 49 Millionen Menschen nicht versichert. Das liegt nicht nur am Geld. Sie werden wegen Krankheiten von den Versicherungen nicht genommen".

Ob die Defizite bei den Krankenkassen – "Sie zahlen viel ein, in welchen Kanälen verschwindet Ihr Geld", ob der Rückgang der Hausärzte – "Es kommen keine mehr nach.", oder die Zusammenführung von Ärzten in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) – "Dort geht es um Profit, nicht um Ihre Gesundheit.", Hartwigs Themenliste ist lang. Längst ist sie damit vielen unbequem geworden. Als Rednerin würde sie munter ein- und ausgeladen, ob bei Anne Will, bei Maybrit Illner oder bei Hart aber fair, erzählt sie, locker im Ton, aber mit großem Ernst für die Sache. Ihr Resümee: "Es geht mit rasanter Geschwindigkeit abwärts." Rund 70 Millionen Bundesbürger sind als Kassenversicherte "abhängig von diesem System". Hartwig: "Schulterzucken reicht nicht. Wir müssen uns mit aller Kraft gegen diese Politik stemmen, bevor es zu spät ist. Denn sie ist menschenverachtend, ohne Scham und ohne Würde."