Augsburg
Tanz in die Zukunft

Das Augsburger Ballett beschäftigt sich mit neuen Formensprachen Gelungene Premiere von "(R)Evolution" an der Brechtbühne

19.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:54 Uhr

Meditation über Abschiede: Szene aus dem Ballett "My Desert, My Rose" von Dominique Dumais. - Foto: Schölzel

Augsburg (DK) "(R)Evolution" - das hört sich nach einem der angestrengten Titel an, die ein Rahmen für höchst Unterschiedliches sein sollen. Bei den vier Choreografien, die auf der Brechtbühne des Theaters Augsburg darunter zusammengefasst sind, ist der rote Faden aber erkennbar. Die vier Choreografen aus verschiedenen Ländern mit jeweils höchst unterschiedlichen (künstlerischen) Biografien setzen sich dabei mit der Entwicklung des Tanzes und traditioneller Formen auseinander. Jede einzelne Choreografie ist aber auch eine Evolution, entwickelt sie sich doch jeweils aus einem Grundgedanken, wendet ihn und dekliniert ihn durch.

In "Brel-Suite" des Belgiers Lode Devos darf man sich das wie einen Abend in einem Bistro vorstellen. Chansons von Devos' Landsmann Jacques Brel, die Tänzer erzählen dazu alle Geschichten so eines Abends: von dem Geplauder nach der Begrüßung über Diskussionen, von Streit, ausgelassenem Feiern, den stillen Momenten der Nachdenklichkeit oder Einsamkeit, ebenso wie vom wilden und ungezügelten Vergessen seiner selbst in Tanz und Rausch. Die Tänzer zeigen in dieser szenischen, erzählend angelegten Choreografie individuelle Figuren und ihre Charakteristiken, sind aber einheitlich schwarz-weiß gekleidet. Uniformität? Nein. "Wir sind alle gleich" ist eher die Toleranzbotschaft des Belgiers, der eben auch die sprachlich-kulturellen Konflikte seiner Heimat in diesem Zyklus thematisiert. Nach dem figurenreichen Ensemble-Stück Devos' folgt mit Mario Schröders "Pour un clin d'oeil" ein intimer Pax de Deux. Intim, aber nicht still. Denn Yun-Keong Lee und Alexander Karlsson führen mit teilweise aggressiver Dynamik und extensiver Körperlichkeit durch alle Aggregatzustände einer Paarbeziehung: vom Erkennen und der gegenseitigen Anziehung über den Liebesrausch zu Entfernung voneinander, Konflikt und Kälte. Um dann in ungeheuer ausdrucksstarken Momenten die kurze Wiederannäherung zu zeigen, die schon von der Trauer markiert ist, von der Trauer des Wissens, dass nach der erneuten Annäherung der Abschied kommt. "My Desert, My Rose", eine verstörend schöne Arbeit der Frankokanadierin Dominique Dumais, ist vielleicht der Höhepunkt des Abends. Eine Meditation über Abschiede, die Heimat, die Gemeinschaften, in denen sich der Mensch bewegt und die er doch alle irgendwann, irgendwie verlässt. Die Bühne ist wie eine Eiswüste in kältestes Blau getaucht, ein verdorrter Ast ist dort, sonst nichts. Eine symbolisch aufgeladene, zurückhaltende Choreografie, bei der jede Bewegung der vier Tänzer wie ein Satz aus einem philosophischen Werk erscheint. Eingeleitet und beendet mit Simon & Garfunkles "Sound of Silence", ebenfalls reduziert auf das Minimum, die Worte, eine karge Klavierbegleitung, dazwischen ebenfalls viel Stille, keine Musik, Tänzer, die in ihren Bewegungen suchen, tasten, denken, "Entwurzelte", die fragend den Ast (des "Stammbaus") in Händen halten.

Über die Evolution klassischen Tanzes denkt schließlich der Pole Krzysztof Pastor in "Adagio & Scherzo" nach, einer neoklassischen Choreografie zu zwei Sätzen aus Franz Schuberts Streichquintett in C-Dur. Zunächst ist da, zumal nach der kargen Wüstenlandschaft von "My Desert, My Rose", eine irritierende Farblichkeit. Der Zuschauer sieht eine knallbunte Tänzerskulptur, die sich auflöst, wieder findet, in den ansonsten schwarzen Bühnenraum ausgreift und ihn markiert. Die farbigen Lichteffekte, die Pastor bei dieser Choreografie sonst verwendet, sind an diesem Abend in Augsburg nicht möglich - deshalb verlegt er sie in die Kostüme, auf die Körper der Tänzer, die so in dem Spiel mit Licht, Raum und Bewegung eine doppelte Rolle erhalten: Sie sind sozusagen Tänzer und Bühnenbild in einem. Besonders beeindruckend wirkt diese Konstellation bei den ganz langsamen, ganz stillen Stellen des zweiten Satzes, wo die Musik an die Grenze des Verstummens kommt und von den Tänzern gleichsam sichtbar gemacht wird.

Vielleicht mag der eine oder andere die Revolution in dem langen, aber kurzweiligen und anregenden Tanzabend suchen. Aber die Entwicklungen, die uns "(R)Evolution" zeigt, sind allemal den Besuch wert.