Kiyunga
Prothesen geben Hoffnung auf ein besseres Leben

05.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:44 Uhr

Freudestrahlend sitzt Unisi Namubiru, die verkrüppelte Füße hat, auf einem neuen Rollstuhl, der mit Spenden aus Deutschland beschafft werden konnte.

Kiyunga/Uganda (DK) Die meisten Menschen in Uganda können Operationen nicht bezahlen. Oft bleibt nur die Amputation von Gliedmaßen. Der Orthopädiemechaniker Karsten Schulz gibt den Behinderten künstliche Arme und Beine.

Es ist ein Sonntagnachmittag, als für Mary Nanyonga alle Hoffnungen ihres Lebens auf einen Schlag zerstört werden. Die 21-jährige Uganderin hat sich aus einem gottverlassenen Dorf bis an die Makerere-Universität in der Hauptstadt Kampala hochgearbeitet. Dank ihrer brillanten schulischen Leistungen erhält die bildhübsche junge Frau ein staatliches Stipendium. Sie studiert Computerwissenschaften und Mathematik. Auch in einem Entwicklungsland wie Uganda ist das ein fast sicherer Weg aus der drückenden Armut. Als Hobby singt Mary in einem Chor. Nach einem Konzert am 29. Dezember 2007 ist sie mit einem Minibus auf dem Weg zurück in ihr Heimatdorf. Es sind Ferien und sie will ihre Eltern treffen.

"Ich erinnere mich noch genau an den Unfall", erzählt sie in gutem Englisch dem DONAUKURIER. Der Bus wird von einem Auto gerammt, das viel zu schnell fährt. "Ein Mensch starb, und es gab viele Verletzte", berichtet Mary. "Unser Busfahrer war unschuldig." Aus den Trümmern des Fahrzeugs ziehen die Retter auch die junge Studentin. Sie hat komplizierte Brüche an beiden Oberschenkeln und kommt in ein Krankenhaus. Eine Operation wäre möglich, ist aber viel zu teuer für die arme Familie. Wer in Uganda kein Geld für medizinische Betreuung hat, der stirbt oder bleibt ein Leben lang behindert.

Am 1. Januar 2008 tritt ein Arzt an Marys Krankenbett. "Wenn Sie weiterleben wollen, dann müssen wir beide Beine amputieren", sagt der Mediziner. Sie stimmt zu. Als die 21-Jährige aus der Narkose erwacht, ist das furchtbare Werk getan. "Ich konnte meine Beine noch spüren", sagt sie. "Aber ich wusste nicht, wie es weitergehen soll."

Der Traum vom erfolgreichen Studium, einem anspruchsvollen Beruf, einem Mann und Kindern ist geplatzt. Mary ist für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt - und das in einem Land, in dem Barrierefreiheit unbekannt ist. Sie leidet an Phantomschmerzen. Zur Behinderung kommt die soziale Stigmatisierung. Mary kehrt entmutigt ins Dorf ihrer Eltern zurück.

Zehn Jahre später hört die Familie von einer neuen Orthopädiewerkstatt in Kiyunga, einem Dorf östlich von Kampala nahe der Distrikthauptstadt Mukono. Dort erhalten Amputierte dank Spenden aus Deutschland kostenlos künstliche Beine und Arme. Mary und ihre Mutter fahren hin. Sie treffen Karsten Schulz und Aaron Bremer. Schulz ist Orthopädiemechaniker und Fachlehrer für Orthopädietechnik. Er lebt im hessischen Usingen. Vor gut fünf Jahren wurde der Experte für Prothesen auf die schreckliche Situation von körperbehinderten Menschen in Uganda aufmerksam. Nachdem er sich im Land einen Eindruck verschafft hatte, gründete er 2014 den Verein Pro Uganda - Prothesen für ein neues Leben.

Aaron Bremer ist gelernter Orthopädiemechaniker und ein früherer Schüler von Schulz. Er lebt seit einem Jahr mit Frau und kleiner Tochter in Uganda. Bremer fertigt in Diensten des Vereins Prothesen an und überwachte den Bau der modern eingerichteten Orthopädiewerkstatt, die vor wenigen Monaten eröffnet wurde. Den Baugrund stellte die von der Österreicherin Maria Prean gegründete Organisation Visions for Africa zur Verfügung, die in Kiyunga ein großes Waisenkinderprojekt, ein Hotel mit angegliederter Hotelfachschule sowie zahlreiche andere Hilfseinrichtungen betreibt.

Schulz kennt Dutzende Schicksale wie das von Mary. Es kommen Kriegsverstümmelte und Opfer von Motorradunfällen sowie Menschen, die sich seit Jahren nur auf ihren Armen fortbewegten. Er erzählt auch von Stella Chebet. Als Kind wurde sie während eines Streits ihrer Eltern ins offene Feuer geschubst. Die Verbrennungen waren so schwer, dass der Unterschenkel amputiert werden musste. Stella teilt dieses Schicksal mit einem jungen Fußballer, der bei einem Foul einen Wadenbeinbruch erlitten hatte, der mangels Geld nicht operiert werden konnte. "Beide haben unsere Werkstatt auf eigenen Beinen verlassen", freut sich der dynamische 54-Jährige. Stella betreibe inzwischen trotz der Prothese einen eigenen Friseursalon. "Manchmal bringen uns die Leute dann eine Ananas zum Dank - sie haben ja sonst nichts."

Unermüdlich sammelt Schulz in Deutschland Spenden, um mehr Behinderten helfen zu können. Zwei- bis dreimal im Jahr fliegt er während der Schulferien auf eigene Rechnung nach Uganda, um sein Projekt voranzutreiben. Meistens begleiten ihn mehrere seiner Berufsschüler, auch sie kommen selbst für die Kosten der Reise auf. Die Nachwuchsorthopädiemechaniker haben in Kiyunga die Möglichkeit, ihr frisch erworbenes Können erstmals selbst an vielen Amputierten zu erproben und so praktische Erfahrung zu sammeln. "In Deutschland kommen die Azubis nicht so schnell an Patienten ran." Und sie lernten, den Wohlstand daheim in Deutschland wieder wertzuschätzen.

"Ich komme aus einem reichen Land", meint Schulz. "Ich kann etwas abgeben und ich gebe den Menschen hier meine handwerklichen Fähigkeiten." Die Glücksmomente, den Patienten helfen zu können, treiben ihn voran. Eine Ausbildungsstätte ist sein nächstes Projekt. Schulz will sein Können an Ugander weitergeben, womit auch Arbeitsplätze geschaffen würden.

Gemeinsam mit Aaron Bremer untersucht Schulz die Oberschenkelstümpfe von Mary. Oberschenkelprothesen seien kompliziert und relativ teuer, erklärt er. Aber sein Optimismus versiegt auch in diesem Fall nicht. Fürs erste muss aber ein neuer Rollstuhl reichen, den Mary freudestrahlend entgegennimmt.

Dank ihrer IT-Kenntnisse verdient die tapfere 31-Jährige inzwischen als Buchhalterin einer Bäckerei etwas Geld und kann halbwegs selbstbestimmt leben. Doch wenn sie mit Prothesen wieder laufen könnte, dann würde das nicht nur mehr Mobilität bedeuten, sondern auch ihre Chance erhöhen, einen Mann zu finden und eine Familie zu gründen. "Ich bin nicht mehr so traurig wie früher", sagt Mary. "Aber ich bedauere, dass ich nicht überall hingehen kann."