Standhaftes Provisorium

Ein Kommentar von Wolfgang Weber

22.05.2019 | Stand 02.12.2020, 13:54 Uhr

70 Jahre Grundgesetz, das klingt erst einmal so spannend wie das Besetzt-Zeichen beim Telefon.

Dabei ist das eine wie das andere enorm wichtig. Wobei im Fall unserer deutschen Verfassung sich wieder einmal bewahrheitet, dass nichts so beständig ist wie ein Provisorium. Denn ein solches sollte das Grundgesetz 1949 sein, um ja nicht die deutsche Teilung festzuschreiben. Als wäre die nicht durch die vier Siegermächte längst beschlossen gewesen und dann durch den ersten Kanzler Konrad Adenauer geradezu garantiert worden.

Immerhin brachte es die behauptete Vorläufigkeit mit sich, dass der Regelungsanspruch des neuen Grundgesetzes von Anfang an deutlich begrenzt war. Es sollte lediglich die Grundlage für den Wiederaufbau der Bundesrepublik - also den Westteil Deutschlands - bilden und nicht alles mögliche festschreiben. Sollten sich die Rahmenbedingungen ändern, sollte die Verfassung angepasst werden. Und so kamen schon in den 1950er-Jahren mit der Verschärfung des politischen Strafrechts und der Wiederbewaffnung die ersten der inzwischen über 60 Grundgesetz-Änderungen.

Zur Behauptung einer deutschen Leitkultur im Sinne mehr oder weniger festgelegter Bestimmungen über konkrete Lebensformen taugt das Grundgesetz deshalb nicht. Mit einer Ausnahme: Die Menschenwürde
des Einzelnen ist unantastbar - mit allen ihren Ableitungen. Und so will das Grundgesetz denn auch in erster Linie dem Staat Zügel anlegen, um die Freiheit der Bürger zu schützen. Und zwar auch die Freiheit jener Bürger, die nicht den religiösen, kulturellen, ethnischen und moralischen Vorstellungen der Bevölkerungsmehrheit entsprechen. Damit stellt sich die Verfassung sogar entschieden gegen jede Leitkultur, falls diese reglementieren und bevormunden will. Stattdessen garantiert das Grundgesetz jedem alle Freiheit, solange er die Freiheit anderer nicht stört.

Aber dieser Freiheitsraum erhält sich nicht von selbst, sondern muss ständig verteidigt werden. Das zeigen nicht nur die Erfahrungen von Weimar, sondern auch die Beispiele Polen und Ungarn mit ihren populistischen Regierungen, die sich auf demokratische Mehrheiten und den Volkswillen berufen, um rechtsstaatliche Prinzipien auszuhebeln. Deshalb zementiert das Grundgesetz, mehr noch als die Weimarer Verfassung, ein Primat des Rechts vor der Politik.

Was das konkret heißt, zeigt beispielsweise der lange währende Streit um die Todesstrafe. Dass sie abgeschafft wurde, ist ursprünglich dem späteren Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm und anderen Rechtskonservativen zu verdanken, die mit ihrer Initiative verhindern wollten, dass Deutsche hingerichtet werden, die während der Nazi-Zeit Massenmorde und Kriegsverbrechen begangen hatten. Die Absicht, Nazi-Mörder zu schützen, ist längst vergessen und inzwischen gilt das Verbot der Todesstrafe als eine der moralischen Grundlagen der Bundesrepublik. Das hinderte allerdings ausgerechnet Bundesjustizminister Richard Jaeger von der CSU nicht daran, sich immer wieder für die Wiedereinführung stark zu machen. Denn bis zu 80 Prozent der Deutschen waren zeitweise für die Todesstrafe.

Gegen diese Mehrheit und Minister Jaeger aber stand das Grundgesetz und hinter dem ein machtvolles Bundesverfassungsgericht als Wächter. Richter und ein Gesetzestext können bei uns im Einzelfall dem Willen einer überwältigenden Bevölkerungsmehrheit und selbst der Bundesregierung trotzen. In jedem Fall können sie bremsen. Denn das Grundgesetz bestimmt auch, dass staatliche Entscheidungen stets rechtmäßig und rechtsförmig sein müssen. Schnelles Durchregieren, wie es Populisten gern versprechen, ist mit unserer Verfassung überhaupt nicht möglich. Die beste Vorbeugung dafür, dass es so bleibt, wäre, dass sich alle Bürger immer wieder mal mit dem so oft gelobten Grundgesetz befassen. In den Worten von Gotthold Ephraim Lessing, dem großen Dichter der deutschen Aufklärung: Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? - Nein. Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein.