Eichstätt
Auf der Suche nach der inneren Heimat

Thommie Bayer las im Rahmen des Festivals "LiteraPur" aus seinem neuesten Roman

07.06.2019 | Stand 23.09.2023, 7:20 Uhr
Von Einsamkeit, Verletzlichkeit, aber auch von den Chancen auf Veränderung und Neubeginn handelt das Buch "Das innere Ausland", aus dem Autor, Maler und Musiker Thommie Bayer aus Freiburg im Rahmen von "LiteraPur" las. −Foto: Kusche

Eichstätt (EK) Wer es als Autor geschafft hat, im renommierten Münchner Piper Verlag zu veröffentlichen, der gehört zu den Großen der Branche: Am vierten Tag des Eichstätter Literaturfestivals "LiteraPur" 2019 präsentierten die Veranstalter mit Thommie Bayer einen solchen Hochkaräter.

Es greift aber zu kurz, wenn man in Bayer nur den Schriftsteller sieht. Daneben ist er auch noch Musiker, Liedermacher, Maler, Essayist und Drehbuchautor und gerade aus dieser künstlerischen Bandbreite schöpft er seine leisen, aber genialen Geschichten, von denen er bisher über 25 verfasst hat. Im International House der Katholischen Universität las Bayer am Donnerstag aus seinem 2018 erschienen Roman "Das innere Ausland".

Der Protagonist des Romans ist der 64-jährige Andreas Vollmann, der auf sein unspektakuläres, aber von Schicksalsschlägen gezeichnetes Leben zurückblickt. Als Eisenbahnschaffner tingelte er Jahrzehnte lang durch Europa, ohne je seinen Lebenssinn zu finden. Seit seiner Pensionierung vor fünf Jahren lebte er zusammen mit seiner jüngeren Schwester Nina in einem Haus in Südfrankreich und schien sein bescheidenes Glück gefunden zu haben. Doch völlig unerwartet stirbt seine Schwester an einer Krebserkrankung, die sie vor ihm verheimlicht hatte. Eine Welt bricht zusammen. Als dann plötzlich deren Tochter Malin, von dessen Existenz er nichts wusste, mit Koffer vor seiner Tür steht, bahnt sich eine markante Wendung in seinem Leben an.

Leise und leicht nahm Bayer sein gebanntes Publikum mitten hinein in das Leben des Einzelgängers Andreas, der einsam, ohne jeden Sozialkontakt, kurz vor der Verwahrlosung steht. Doch Andreas, so spüren die Zuhörer, erhält eine zweite Chance - und zwar nicht, wie so häufig, durch eine Liebesgeschichte, sondern durch die Nähe eines Menschen, der mit ihm verwandt, ihm aber zugleich völlig fremd ist. In dieser reizvollen Konstellation betritt der Autor in seinem Werk Neuland jenseits der ausgetretenen narrativen Pfade. Ganz unaufgeregt dringt Bayer in die Gespräche und den Alltag von Onkel und Nichte ein und beschreibt, wie sie sich vorsichtig und respektvoll einander annähern. Dabei erfasst er akribisch die oft harsche männliche Reaktion seines Protagonisten und dessen komplexe innere Welt, in die er sich seit Jahren immer weiter zurückgezogen hat: "Bist du glücklich hier? ", fragt ihn Malin gleich zu Beginn und er antwortet: "Männer fragen sich nicht, ob sie glücklich sind. "

Innerlich aber reißt diese Frage alte, nie geheilte Wunden auf, denn seine Mutter starb, als die beiden Geschwister neun und fünf Jahre alt waren, vor deren Augen. Vollmann war ab diesem Moment für seine Schwester Nina verantwortlich - bis ein Jahr später auch der Vater einer Krankheit erlag. Das Leben schweißte Vollmann und seine Schwester aufs Engste zusammen und doch musste irgendwann jeder sein eigenes Leben führen. So verlor Andreas Nina für kurze Zeit aus den Augen. Umso überraschender ist es für ihn nun, dass Malin ihm von den unbekannten Seiten ihrer Mutter erzählt.

Vollmann, so ließ Bayer die Zuschauer wissen, lebt seit einigen Jahren in Frankreich und damit im Ausland. Er versteht zwar kaum ein Wort Französisch, doch gerade deshalb ist hier seine innere Heimatlosigkeit besser zu ertragen als in der Heimat, in der er nie richtig gelebt hat. Dass ihm Malin nun vielleicht ein Stück innere Heimat wieder zurückgeben kann, ist eine glückliche Fügung des Schicksals. Doch es kommt eben auf die Nuancen in dieser komplizierten Gefühlswelt an. Behutsam und melancholisch fängt Bayer die Psychologie der gegenseitigen Annäherung zweier Menschen ein, die beide vielfache Verletzungen erfahren haben.

Es ist eine atmosphärisch dichte, glaubwürdige, zugleich aber ungemein leicht und anrührend erzählte Alltagsgeschichte fernab von jedem Kitsch. Der Umbruch vollzieht sich bereits auf den ersten Seiten des Romans und braucht doch viele kleine Etappen, um zu einem echten Neuanfang zu werden. Diese kleinen Schritte als Leser mitzuverfolgen, macht den großen Reiz dieses Buches aus. Dabei entfaltet Bayer die faszinierenden Seiten einer platonischen Liebe, die für beide Protagonisten zum Gewinn werden kann. Bei seiner Lesung anlässlich "LiteraPur" verriet er natürlich nicht das Ende seines Romans und antwortete auf die Frage aus dem Publikum, wie er denn auf den Buchtitel gekommen sei, nur schmunzelnd: "Der ist mir aus dem Text entgegengesprungen. "

Dagmar Kusche