"Für die Klass' reicht oa Hax"

Michael Sedlmayr spielt Fußball, seit er ein kleines Kind war. Ein Waldlauf aber hat schwere Folgen: Wochenlang klagt er über Schmerzen im Bein, am Ende muss sein Unterschenkel amputiert werden. Da ist Sedlmayr gerade einmal 14 Jahre alt. Ein Jahr später erleidet er einen Schlaganfall, später wird er gemobbt. Mittlerweile ist der junge Mann 21 Jahre alt, und spielt trotz allem wieder Fußball: als leidgeprüfter Keeper bei der SpVgg Steinkirchen. <Autor>Von Kevin Reichelt<?ZE></Autor>

08.06.2019 | Stand 23.09.2023, 7:21 Uhr
  −Foto: Reichelt, Sedlmayr

Michael Sedlmayr spielt Fußball, seit er ein kleines Kind war. Ein Waldlauf aber hat schwere Folgen: Wochenlang klagt er über Schmerzen im Bein, am Ende muss sein Unterschenkel amputiert werden. Da ist Sedlmayr gerade einmal 14 Jahre alt. Ein Jahr später erleidet er einen Schlaganfall, später wird er gemobbt. Mittlerweile ist der junge Mann 21 Jahre alt, und spielt trotz allem wieder Fußball: als leidgeprüfter Keeper bei der SpVgg Steinkirchen.

Das ganze Leben ist ein Marathon, heißt es oft. Manchmal wird so ein Lebenslauf aber auch zu einem Hürdenlauf - so wie bei Michael Sedlmayr. Wer den 21-jährigen Reichertshausener am Sonntag auf dem Fußballplatz sieht kommt nicht auf den Gedanken, dass ihn etwas von den 21 anderen Spielern auf dem Feld unterscheiden würde. Tut es aber. Das wird erst klar, wenn Sedlmayr den Stutzen und die lange Unterziehhose nach unten beziehungsweise oben schiebt. Dort, wo einst sein linker Unterschenkel war, hilft nun eine Prothese aus. "Ich mag nicht, dass die Gegner denken, sie hätten es einfach."

Einfach - wenn Sedlmayr das sagt, hat das eine besondere Wirkung. Wirklich einfach war es für ihn nämlich nie. Seit er sechs Jahre als ist, spielt er Fußball. Mal als Stürmer, mal als Torwart - bei seinem Heimatverein TSV Reichertshausen. So weit, so gut. Bis zu einem Waldlauf Anfang September 2011. Sedlmayr knickt um, muss nach Hause gebracht werden. "Ich hatte Schmerzen", sagt er. Eine Zerrung. Sedlmayr begibt sich in Behandlung, lässt sich akupunktieren, schröpfen. Ohne große Wirkung. "Das hat alles nur für eine Stunde etwas gebracht, danach waren die Schmerzen zurück." Drei Wochen lang geht das so. Bis es zu viel wird: "Ich habe nachts plötzlich irre Schmerzen bekommen, mein Bein war komplett weiß - wie bei einer Leiche." Sedlmayr fährt mit seiner Mutter zum Arzt. Dieser merkt, dass etwas nicht stimmt: Kein Puls, Sedlmayr spürt nichts mehr. Der Reichertshausener wird ins Krankenhaus geschickt, es folgt ein Ultraschall: "Dort wurde festgestellt, dass alle Arterien zu sind", sagt Sedlmayr. Er hat eine Blutkrankheit, die zu einer Thrombose geführt hat. Per Hubschrauber wird er nach München geflogen, dort folgt direkt die Operation. Zwölf Stunden. "Es wurde sogar Schlangengift eingesetzt", erinnert sich Sedlmayr. Er erzählt das nüchtern, unaufgeregt. Als der Jugendliche aufwacht, ist sein Bein schwarz. Die Ärzte machen eine klare Ansage: "Entweder Bein ab - oder du stirbst." Schicksalsschläge wie Donnerschläge. Sedlmayr ist 14. Ihm bleibt keine andere Wahl.

Bis heute kämpft Sedlmayr vor Gericht gegen den Arzt, der ihn zu spät behandelt habe. Es ist das i-Tüpfelchen einer eh schon lebenslang prägenden Geschichte. Ein Jahr später erleidet er einen Schlaganfall, ebenfalls wegen seiner Blutkrankheit. "Aber das war nur ein kleiner", winkt er ab. Er ist hart im Nehmen - zwangsweise. Eine lange Zeit versucht er, wieder auf die Beine zu kommen. Die Ärzte spielen dabei eine wichtige Rolle, weil sie ihn motivieren - mit einer vernichtenden Aussage: "Die Ärzte haben gesagt, dass ich nie wieder Sport machen kann. Ich habe nur geantwortet: ,Ihr werdet schon sehen.'" Sedlmayr dreht das Negative ins Gegenteil, beginnt mit Leichtathletik. 2015 wird er Deutscher Meister im Sprint und Weitsprung, danach hört er auf: "Ich wollte einfach den Titel holen und ihn nie verlieren", sagt er und lacht. Bei ihm ist es ein wohltuendes Lachen. Außerdem habe er den Mannschaftsgedanken vermisst: "Du bist für dich, läufst nur geradeaus. Das ist nichts für mich." Also beschafft er sich ein Gutachten, versucht es wieder mit Fußball, wieder beim TSV. Schließlich war Fußball immer die Leidenschaft des 21-Jährigen, der als Fachkraft für Lagerlogistik und nebenbei als Fitnesstrainer arbeitet. Beim TSV folgt die nächste große Hürde im Lebenslauf: Sedlmayr wird als vom Leben Gezeichneter gemobbt. "Sie haben mich richtig fertig gemacht", sagt er heute. "Du kannst an Fasching als Pirat gehen" war noch einer der netteren Sprüche. Er lernt vieles in dieser Zeit. Dass es als Stürmer nicht mehr geht. Viel mehr aber noch, wer wahre Freunde sind - und worauf es ankommt.

Einer dieser guten Freunde ist der Grund, wieso er heute trotzdem spielt: "Er hat in Steinkirchen angefangen, ich habe beim Training zugeschaut." Der Trainer spricht ihn an. Die SpVgg sucht einen Torwart, Sedlmayr stellt sich in den Kasten. "Er ist ein zuverlässiger und ehrgeiziger Keeper", sagt SpVgg-Coach Jochen Niemann. Sedlmayr spielt in der C-Klasse, hilft aber auch in der A-Klasse aus. Niemann beschreibt Sedlmayr als sehr gut integriert. Endlich, möchte man meinen. Außerdem mache er sehr oft Witze über sich selbst: "Für die Klass' reicht oa Hax", sagt er manchmal. Auch vor Zusammenstößen mit Stürmern hat er keine Angst: "Mir tut es nicht weh - ihm schon." Sedlmayr lacht. "Natürlich mache ich Witze über den Schmarrn. Wenn du keinen Humor hast, gehst du unter."

Der Schmerz, der im September 2011 begonnen hat, hält immer noch an, das ist trotz aller Witzeleien zu spüren. Nicht nur wegen der Phantomschmerzen, die er manchmal aus dem Nichts kriegt. Das verrät er mit einem tiefen Seufzer. Nach der Frage, wie schwer es die ersten Tage war, zuckt Sedlmayr kurz, dann sagt er leise: "Nicht nur die ersten Tage, sondern bis heute." Sein Leben ist ein Hürdenlauf, Sedlmayr weiß das. Einige hat er schon genommen, ohne dabei zu stürzen. Für die nächsten ist er gerüstet.

Kevin Reichelt