München
Die Wahrheit hinter der Wahrheit

"Chicago" in München: Die Mörderinnen des Cook County Jail kommen ans Deutsche Theater

07.08.2019 | Stand 23.09.2023, 8:06 Uhr
Die sechs Mörderinnen im Cook County Jail sind sich keiner Schuld bewusst. −Foto: Jeremy Daniel

München (DK) Drei Schüsse knallen laut auf der Bühne.

Roxie Hart (Carmen Pretorius) hat ihren Liebhaber erschossen. Alles scheint ganz klar: ein kaltblütiger Mord ohne Reue, ohne Schuldgefühle. Doch im Musical "Chicago", das am Dienstag am Deutschen Theater in München Premiere feierte, versteckt sich hinter der offensichtlichen Wahrheit immer noch eine zweite Wahrheit.

Im Cook County Jail sitzen kaltblütige Mörderinnen. Alle haben sie ihre Männer umgebracht, doch oh weh, was hätte man sonst tun sollen, fragen die sechs Frauen mit großen rehäugigen Blicken. Alles war nur Notwehr, die Männer vielmehr selbst verantwortlich für ihr Schicksal. Lasziv tanzen die Frauen in ihren knappen schwarzen Spitzen-Outfits im "Cellblock Tango" um ihre Stühle. Dass in diesem Gefängnis alles anders ist, Moral und Anstand keinen Platz haben, wird schnell klar. Der korrupte Anwalt Billy Flynn, den Craig Urbani nicht nur gesanglich, sondern auch schauspielerisch vortrefflich mimt, fragt nie nach den Motiven seiner Klientinnen, nein, ihn interessieren nur die 5000 Dollar, die er für seine Dienste verlangt ("Für 5000 Dollar wäre es damals auch für Jesus Christus anders ausgegangen").

Auch Roxie Hart findet sich in dieser Welt schnell zurecht. Die Gefängnismatrona "Mama" Morton (hervorragend gesungen von Ilse Klink) kümmert sich gut um ihre Mädchen, statt Gefängnisstrafe wird hier die Karriere geplant. Denn, so sagt das alte Sprichwort, eine Hand wäscht die andere ("When you're good to Mama"). Und die Männer? Ach die Männer sind doch eh nur dafür gut, ihre Frauen gut aussehen zu lassen, ihnen jegliche Schuld abzunehmen, oder Roxie Hart bei ihrem Auftritt mit durchtrainierten Muskeln einzurahmen ("Ich nehme gleich mehrere und denke groß"). Während sie für die Frauen des County Jail wenig interessant sind, bereichern die Tänzer die Inszenierung in München mit meisterhaft umgesetzten Choreografien umso mehr. Egal ob Charleston oder Step Dance, jeder Einsatz überzeugt durch die punktgenaue Ausführung.

Als wahrer Übeltäter in "Chicago" entpuppt sich dann schließlich die Gesellschaft. Immer wieder stürmt die Presse, angeführt von Mary Sunshine (KJ Haupt), zu den Mörderinnen, hängt ihnen an den Lippen, wenn sie ihre Unschuld beteuern, immer noch skandalösere Motive für ihre Taten offenbaren - ganz einfach ihre Show abziehen. Sie ist sensationslüstern, diese ewig nach Skandalen gierende Gesellschaft, und die inhaftierten Frauen sowie deren Anwalt geben ihr schlicht nach, was sie verlangt. Die Abhängigkeit der Mörderinnen von den Boulevard-Blättern und umgekehrt muss nicht direkt genannt werden, Regisseur Bob Fosse schafft eindrückliche Szenen, wenn die Kameras der Paparazzi ein Blitzgewitter auslösen oder die Journalisten den Inhaftierten nach dem Mund reden. Seine Inszenierung funktioniert prima als nie ausgesprochene und doch offensichtliche Anklage auch an die heutige Zeit.

Erstmals kam das preisgekrönte Musical 1975 auf die Bühne, inspiriert von zwei echten Kriminalfällen, die sich in den 1920er-Jahren ereigneten. Beide Frauen brachten ihre Männer um. Beide Frauen wurden freigesprochen. Verantwortlich dafür? Die Gerichtsreporterin Maurine Dallas Watkins, die beide Fälle in charmant witzige Zeitungslektüre verwandelte.

Und genau diesen Grundtenor, dieses locker leichte und doch verrucht anstößige ist es auch, was dem Musical seinen Charme verleiht. Das minimalistische Bühnenbild (John Lee Beatty), in dem der dreistufige Orchesterkasten dominiert, ist ideal, um nicht von den Frauen abzulenken, deren einnehmende Bühnenpräsenz das zentrale Requisit der Inszenierung ist. Ab und an klappen zwei hohe Leitern am Bühnenrand auf, darauf die Darstellerinnen, die kurz in die Rolle einer Erzählerin schlüpfen. Der Rest ist Tanz, Verführung und die packenden Kompositionen von John Kander und Fred Ebb, die auch Stunden nachdem der Vorhang gefallen ist, noch im Ohr bleiben. Das liegt auch zu einem großen Teil an dem überragend eingesetzten Orchester, das nicht nur Teil der Handlung ist, sondern auch Verbindungsstück zwischen Bühnenwelt und Publikum. Schon vor der Pause räkelt sich Dirigent Bryan Schimmel das erste Mal auf dem Pult, zwinkert den Zuschauern zu. Drummer Luca de Bellis streckt die Zunge raus, die Trompeter grinsen sich schelmisch zu. Das Publikum applaudiert begeistert.

Weltberühmt "All that Jazz", das sich durch die gesamte Handlung zieht, zum ersten Mal gleich am Anfang von Doppelmörderin Velma Kelly (Samantha Peo) gesungen. Kelly, zweite Hauptfigur neben Roxie Hart, ist es auch, die als Einzige trotz all ihrer Lügen zumindest den Hauch von Moral bei den Menschen vermisst. Es spricht Bände, wenn sie und "Mama", zwei offensichtlich zwielichtig Personen, den Stil ("Class") vermissen in der heutigen Bevölkerung.

Zum Schluss wirkt es wie eine stille Anklage, wenn Roxie und Velma, beide selbstverständlich freigesprochen, bei ihrer eigenen Show von der wunderbaren Zeit singen, in der man tun und lassen kann, was man will - und ja, vielleicht in 50 Jahren, da wird alles besser, aber heute ist nicht mal Mord ein Vergehen.

Deutsches Theater München, Vorstellungen bis 11. August, Kartentelefon (089) 55234444
 

Anna Hecker